Vom Autor zur Rampensau

Vom Autor zur Rampensau

Vom Autor zur Rampensau

Ein Erlebnisbericht nach 4000 Lesungen

Der geheimnisvolle Herr Bödecker
Ich war ein junger Autor, hatte ein paar Bücher veröffentlicht, die mehr schlecht als recht liefen. Um die ganze Wahrheit zu sagen: sie lagen wie Steine in den Regalen. Ich war gerade Vater geworden und die Menschen meiner Umwelt drängelten mich, den Traum vom freien Autorenleben aufzugeben und endlich vernünftig zu werden.

Ich war zwei Monatsmieten im Rückstand, der Hausherr drohte mit Kündigung. Schon zweimal hatte man mir Strom und Heizung abgedreht. Die Bank forderte meine Kreditkarte zurück. Ein Freund machte mir das Angebot, ich könne in seiner Versicherungsagentur arbeiten, bei meinem Talent, Lügengeschichten zu erfinden, sei ich geeignet für diesen Job.

Die einzige Einnahmequelle, die ich in diesem Monat hatte, kam von einer Lesung. In einer Buchhandlung konnte ich für einen berühmten Kollegen einspringen, der krank geworden war. 250 Mark.

Ich war so pleite, dass ich kein Geld zum Tanken hatte und ich kannte auch niemanden mehr, der mir noch etwas geliehen hätte.

Ich tankte trotzdem, ging zur Toilette der Tankstelle, knackte dort den Präserautomaten und zahlte mit Zweimarkstücken.

Die Lesung entschädigte mich für einiges. 25 Zuhörer, damals ein Riesenpublikum für mich. Ich sah, dass meine Bücher auf Interesse stießen. 9 Exemplare wurden verkauft, und, was meinem Autorenstolz sehr gut tat, man bat mich sogar um Autogramme.

Als ich zurückfuhr, wusste ich, so könnte ein Autorenleben aussehen. So könnte ich unabhängiger von der veröffentlichten Literaturkritik werden. Meine Zuhörer könnten sich selbst ein Bild von mir machen und sich dann entscheiden, ob sie ein Buch von mir lesen wollten oder nicht.

Ja, auf Lesereisen wollte ich gehen. Aber wie? Ich konnte ja nicht ständig darauf hoffen, dass berühmte Kollegen krank werden.

Ich hatte vom Bödeckerkreis gehört. Für mich war das eine Art Geheimgesellschaft, in der sich große Schriftsteller versammelten, um ihre Lesereisen zu organisieren. Dort Mitglied zu werden oder gar in ihr Verzeichnis aufgenommen zu werden, schien aber fast unmöglich. Man hatte mir erzählt, ein Autor müsse mindestens drei Bücher in renommierten Verlagen veröffentlicht haben und außerdem gäbe es natürlich eine Qualitätskontrolle. Bödecker wolle ja nicht jeden schreibenden Deutschlehrer auf Lesereise schicken.

Nun, meine Verlage waren bestimmt nicht renommiert. Manchmal fragte ich mich sogar, ob es richtige Verleger waren.

In meinen Alpträumen versuchte ich, Mitglied im Bödeckerkreis zu werden. Ich betrat eine Halle, in der ein Dutzend von mir bewunderter Autoren saßen und mich mit strengen Gesichtern ansahen. Ich sollte ihnen etwas vorlesen. Schweißgebadet stammelte ich ein paar Sätze aus einem meiner Bücher herunter, und ich ahnte bereits ihr Urteil. In ihren Augen war ich eine Art Insekt. Auf keinen Fall aber mehr als ein lästiger Typ, der sie daran hinderte, endlich zu den wichtigen Dingen zu kommen, die sie zu besprechen hatten.

Ich schrieb einen Brief an einen gewissen Herrn Noack, der nicht nur Autor war, sondern wohl auch Verlagsleiter – und bei Bödeckers eine gewichtige Stimme hatte.. Ich traute mich aber nicht, den Brief abzuschicken.

Ich wollte dazugehören, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte. Hätte man mich damals gefragt, was mir lieber wäre: ein Sitz in der Bundesregierung oder als Autor im Bödeckerkreis zu sein, ich hätte über die Antwort keine Sekunde nachgedacht. Nichts wäre mir wichtiger gewesen, als Autor im Bödeckerkreis zu sein.

Das Goethe-Institut, die Friedrich-Ebert-Stiftung – für mich kam zuerst dieser geheimnisumwobene Bödeckerkreis, dann ganz lange nichts. Dann vielleicht das Goethe-Institut und die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Als ich abends zuhause saß und darüber nachdachte, wie ich dieses freie Leben noch länger durchhalten konnte, klingelte das Telefon. Ein Herr Bödecker meldete sich. Es wurde ein sehr langes Gespräch.

Offensichtlich wusste er mehr über meinen Beruf und die damit verbundenen spezifischen Probleme als ich selbst. Ruhig erklärte er mir Sachzusammenhänge, machte mir Mut und lud mich für eine Woche ein. Drei Veranstaltungen am Tag in Schulen sollte ich abhalten. Das Hotel wurde für mich bezahlt, die Fahrtkosten auch. Das Honorar, von dem er sprach, mag uns heute nicht üppig erscheinen. Für mich war es damals die Rettung. Das bedeutete, eine Lesewoche pro Monat und ich könnte den Rest des Monats ohne Sorgen schreiben.

Das Problem war nur, ich glaubte dem Mann am Telefon kein Wort. Ich dachte, dass mich jemand verarschen will. Denn der Mann dort behauptete, Herr Bödecker zu sein. Und das war für mich genauso absurd, als hätte mich Goethe vom Goethe-Institut oder Friedrich Ebert von der Friedrich-Ebert-Stiftung angerufen.

Ich beendete das Gespräch, nicht er. Ich sagte ihm, verarschen könne ich mich alleine und legte auf.

Wenige Tage später hatte ich für meine Tochter Milumil und eine Packung Pampers im Supermarkt geklaut, und wer weiß, wie sperrig diese Dinger sind, ahnt vielleicht, wie schwierig es ist, sie aus einem Supermarkt zu entwenden. Der Postbote kam. Ich ging gar nicht zur Tür. Das Öffnen der Post war zu der Zeit immer recht deprimierend. Zwischen Absagen von Zeitungen, Sendern und Verlagen fanden sich regelmäßig Mahnungen und unbezahlte Rechnungen.

Diesmal war noch etwas dabei: Eine Einladung nach Hannover. Eine Woche. Drei Lesungen am Tag. Genau wie der Typ am Telefon versprochen hatte. Dabei lag noch eine Einladung zum Tee. Das Ganze unterschrieben mit „Hans und Katja Bödecker“.

Nie wieder musste ich klauen gehen, um als Künstler zu überleben.

Das Ganze ist jetzt 25 Jahre her. Wenn man alles zusammenzählt, habe ich inzwischen mehr als 4000 Veranstaltungen gemacht, gut 2000 Nächte in Hotelzimmern geschlafen und habe mehr als fünf komplette Jahre meines Lebens, Sonn- und Feiertage eingerechnet, auf Lesereisen verbracht.

Das Treffen mit Hans Bödecker wurde zu einer lebensprägenden, ja lebensentscheidenden Begegnung für mich. Es machte aus einem vor sich hinstümpernden, erfolglosen Autor eine Art Handlungsreisenden in Sachen Literatur. Ich kann mir ein Leben ohne das gar nicht mehr vorstellen. Das Reisen und Vorlesen ist Teil meines Wesens geworden.

Oh ja, manchmal schimpfe und fluche ich. Dann sitze ich grippig und heiser in irgend einem Hotelzimmer, rufe Freunde an, die ich schon Jahre nicht mehr gesehen habe. Dann kann ich klagen und jammern, weil ich Angst habe, dabei sozial zu entwurzeln – ja zu verwildern. Nicht alle Beziehungen halten so ein Nomadenleben aus. Dabei geht manche Freundschaft und auch so manche Ehe kaputt.

Meine Berufskollegen können ein Lied davon singen. Der Autor Jürgen Banscherus sagte einmal zu mir, bezeichnenderweise an einem Bahnsteig, unsere Züge fuhren in unterschiedliche Richtungen weiter: „Was tun wir eigentlich? Wieso fahren wir in Schulen und lesen Kindern Geschichten über Väter vor, die nie zuhause sind, während unsere eigenen Kinder zuhause auf uns warten?“

Ja, manchmal habe ich diese Art Leben gehasst. Wenn ich wieder mal einen eigenen Geburtstag allein auf Reisen in einem Hotelzimmer mit Blümchentapete feiern musste, oder wenn sich wieder ein Freund von mir verabschiedete, weil man Freundschaft eben auch leben können muss und das erfordert Anwesenheit.

Aber dann lernte ich mich besser kennen. Ich hatte eine schwere Herzoperation und wurde mitten im Herbst aus dem Lesegeschäft herausgerissen. Endlich war ich zuhause. Ruhig gestellt. Eine Weile genoss ich es sogar.

Kolleginnen schickten mir Briefe von den verschiedenen Jugendbuchwochen, für die ich eigentlich gebucht war und bei denen sie mich vermissten.

Endlich hatte ich Zeit, nahm an allen Feiern teil, traf Menschen meiner näheren Umgebung, die ich Jahre nicht gesehen hatte, war immer zuhause, wenn das Telefon klingelte. „Du bist dran? Ich dachte schon, es sei der Anrufbeantworter!“

Ich schrieb ein neues Buch und leierte ein Filmprojekt an. Aber dann spürte ich etwas, das zunehmend Besitz von mir ergriff: Eine Art Unruhe, gepaart mit Unzufriedenheit. Konnte es etwa sein, dass mir das alles fehlte? Der sumpfige Kaffee im Lehrerzimmer? Die Milch überm Verfallsdatum? Die Hotelzimmer an der Hauptverkehrsstraße? – Nein, das alles war es bestimmt nicht. Aber mir fehlte mein Publikum.

Ich spürte mich als Autor nicht mehr. Ich schrieb ein paar Szenen und fragte mich, ob sie gut waren. Noch vor wenigen Wochen hätte ich sie einfach ausprobiert. Das Lachen der Schüler hätte mich bestätigt, das Ausbleiben der gewünschten Schülerreaktion hätte mich dazu gebracht, alles zu streichen und noch mal neu zu formulieren.

Ich merkte, wie schnell aus mir ein quengeliger, spießiger, unausstehlicher Miesepeter werden konnte. Ich begann zu akzeptieren, dass ich das alles viel mehr brauchte, als ich es mir vorher eingestanden hatte.

Ich lehnte die Vorschläge der Ärzte, in eine Rehaklinik zu gehen, ab. Ich ging stattdessen auf eine Lesereise. Ich wollte mich wieder richtig spüren, mein Publikum sehen. Eben leben, wie es sich für eine Rampensau gehört.

Die Lichtgestalten und die Totalversager
Ja, es gibt sie wirklich – die Lichtgestalten der Leseförderung. Die stillen Helden der Kulturvermittlung. Sie machen aus jeder Lesewüste einen Geschichtengarten voller Phantasie. Ohne sie wäre der Kulturbetrieb in Deutschland etwa so dynamisch wie eine Bushaltestelle in der Lüneburger Heide.

Ich habe sie auf meinen endlosen Reisen kennen gelernt: die vielen kleinen Bödeckers. Die meisten sind Lehrer oder zumindest ehemalige Pädagogen. Wenn alles gut läuft, machen sie ihre Arbeit ehrenamtlich. Bei den meisten bin ich mir aber sicher, dass sie mehr Geld hineinstecken, als ihre Lebenspartner wissen. Ein Telefongespräch hier, ein Briefporto dort – so mancher Sparkassendirektor könnte Sponsor der Jugendbuchwoche werden, wenn man ihm vorher ein paar Bücher seiner Lieblingsautoren schickt, natürlich signiert, und eine Einladung zum Abendessen kann auch nicht schaden.

Und dann immer wieder Bücher. Natürlich Bücher. Man will doch wissen, wer was schreibt. Bevor sie einen Autor einladen, wollen sie sein Werk kennen lernen.

Und wenn die Autoren dann kommen, sind sie schließlich Gäste in der Stadt, jemand muss sie begrüßen, und gehört es sich nicht auch, einen Gast einzuladen, wenigstens auf ein paar Spaghetti und einen Rotwein beim Italiener? Wo soll der Etat für so etwas herkommen? Das zahlt mancher aus eigener Tasche, ist das Ganze doch mehr als eine ehrenamtliche Tätigkeit.

Ein Hobby? Eine Leidenschaft? Vielleicht gar eine Sucht?

Während ich das schreibe, sehe ich sie vor mir: Konrad Pfannschmidt zum Beispiel, der seit inzwischen 22 Jahren in Hildesheim die Jugendbuchwoche organisiert. Jedes Jahr lädt er vier, fünf Autoren ein. 50, in guten Zeiten 70 Veranstaltungen. Jedes Jahr denkt er übers Aufhören nach und macht doch immer weiter. Sogar jetzt, obwohl er gar nicht mehr in Hildesheim wohnt.

Oder Rolf Stindl, der seit 1983 Lesereisen für Autoren nach Bremerhaven organisiert. Welcher Autor kennt ihn nicht? Gäbe es ohne ihn in Bremen und Bremerhaven überhaupt Begegnungen zwischen Schülern und Autoren?

Dann Frau Dr. Elke Haas aus Celle. Was sie als Kraftzentrum mit ein paar engagierten Lehrerinnen an ihrer Seite in dieser Kleinstadt auf die Beine stellt, sollte vorbildlich für sämtliche Städte in unserem Land sein. Dann sähe es anders aus, nicht nur bei PISA, sondern es wäre um die Literatur besser bestellt und um die Lesefreude. Wer das Leuchten in den Augen von Frau Dr. Haas sieht, wenn sie über ihre Sache spricht, ahnt, warum sie das alles tut: Sie liebt die Kinder, die Autoren und die Literatur.

Frau Dr. Haas schafft es, zunächst die Mittel aufzutreiben. Dass vieles in unserem Land nicht geht, weil kein Geld da ist, haben wir inzwischen alle gelernt. Wie man Menschen und Sponsoren begeistern kann, das kommt in der Lehrerfortbildung nicht vor.

Wenn ich in Celle bin, kriege ich eine Ahnung davon, wie viele hundert kleine Gespräche notwendig gewesen sein müssen. Selbst ein Schuhgeschäft macht mit und ein Kaffeeröster. Und sie alle sind einbezogen. Kinder- und Jugendliteratur spielt plötzlich in der Stadt eine Rolle. In fast jedem Schaufenster liegt ein Buch, meist ziemlich abgegriffen. Nie noch eingeschweißt. Daneben, auf einem schön gestalteten Papier, erzählt ein Kind, warum dies sein Lieblingsbuch ist. Manchmal sind auch Fotos von den Kindern oder den Autoren in den Schaufenstern ausgestellt.

Morgens werden zehn oder gar zwölf Autoren von Lehrern im Hotel abgeholt und in die einzelnen Schulen gebracht. Dort finden richtige Werkstattgespräche statt. Manchmal hat eine Klasse vorher einen Roman von mir gelesen und sich die Verfilmung angeschaut. Und dann reden wir miteinander.

Dies sind Glücksmomente des Deutschunterrichts. Noch heute schreiben mir Schüler, die so etwas vor 10 oder 15 Jahren erleben durften. Einige von ihnen sind inzwischen selbst Väter oder Lehrer geworden und aktiv dabei in der Leseförderung. Sie wurden damals angesteckt, mit einem Virus infiziert: Kunst und Phantasie sind hochgradig ansteckend und von Mensch zu Mensch übertragbar.

Vielleicht geht ja von Celle, Bremerhaven oder Hildesheim eine Initialzündung aus für den Rest der Republik. Natürlich gibt es auch anderswo solche Orte. Peine sag ich nur. Braunschweig. Oder auch Göttingen.

Das alles hat immer mit Einzelpersonen zu tun, die das literarische Leben um sich herum pulsieren lassen. Wo sie sind, da ist Literatur. Da findet Kunst statt.

Jetzt fällt mir auf, dass viele dieser Orte in Niedersachsen liegen. Vielleicht liegt es daran, dass dies das Bödecker-Stammland ist. Hier liegt das Epizentrum der Leseförderung.

Seit ich gemeinsam mit Bettina Göschl themengebundene CDs im JUMBO-Verlag herausbringe, haben die Lesungen eine neue Qualität erreicht. Zum Beispiel: Eine Grundschule lädt uns ein. Während Bettina in den ersten beiden Klassen ihre Lieder singt und sie mit den Kindern einstudiert, lese ich den Dritt- und Viertklässlern Geschichten vor von Rittern, Indianern und Gespenstern. So schaffen wir es oft, dass eine gesamte Grundschule an einem Tag „belesen und besungen“ wird.

Dann gibt es an der Schule einen Elternabend. Alle Eltern wurden hierzu schriftlich eingeladen. Mit ein bisschen Glück sind an der Schule genügend ausländische Kinder, deren Familien nutzen meist die Gelegenheit, um ein tolles Büffet aufzubauen. Eine Buchhandlung bietet auf einem Büchertisch die Bücher und CDs an, aus denen tagsüber vorgelesen wurde.

Jetzt kommen viele Eltern erstaunlicherweise nicht nur mit ihren Kindern, sondern sie werden geradezu von ihren Kindern mitgenommen. Denn die Kinder haben tagsüber in der Schule etwas Tolles erlebt und wollen das jetzt noch mal haben und mit Mama und Papa teilen.

So mancher Buchhändler sagte später, er hätte den größten Teil des Tages-Umsatzes seiner Geschichte gemacht. Oft bleibt bei solchen Veranstaltungen nicht mal mehr ein Schutzumschlag übrig, denn die Eltern decken sich ein für Weihnachtsgeschenke und Geburtstage und lassen sich natürlich Bücher und CDs signieren.

Viele Eltern kriegen wieder Lust, ihren Kindern etwas vorzulesen oder auch mit ihnen gemeinsam zu lesen und Lieder zu singen. In Köln sagte ein Schulleiter zu mir: „Glauben Sie, dass ich heute bei diesem Elternabend Eltern kennen gelernt habe, die ich noch nie im Leben gesehen habe? Die kommen nicht zu einem normalen Elternabend, bei dem der spannendste Punkt “Sonstiges„ heißt. Aber so was hier, das ist ja ein gesellschaftliches Ereignis.“

Solche Veranstaltungen, morgens an der Schule, abends der Elternabend, sind ein absoluter Glücksfall, denn hier ist alles miteinander verzahnt. Dies ist perfekt organisierte Leseförderung. Alle haben etwas davon. Die Schule, die Schüler, die Eltern, die Autoren und sogar der Buchhändler und die Verlage.

Es ist nicht immer und überall so gut verzahnt. Vielerorts gibt es wundervolle Lesungen mit engagierten Lehrern, aber wenn die Kinder danach mit der Autogrammkarte in die Buchhandlungen jubilieren, müssen sie feststellen, dass es die Bücher ihres Autoren dort gar nicht gibt.

Viele Kinder betreten in dem Moment zum ersten Mal im Leben eine Buchhandlung – und sie werden gleich frustriert. Der Buchhändler hatte keine Ahnung, dass der Autor in der Stadt ist.

Ich stelle meinen Verlagen Listen mit meinen Lesereisedaten zur Verfügung, damit der Vertrieb die Buchhandlungen vor Ort darüber informieren kann, wann ich wo bin, ja sogar, woraus ich vorlese. Hierbei kann ich eins ganz deutlich beobachten: Je kleiner der Verlag ist, umso wichtiger wird das genommen und umso sorgfältiger werden die Buchhandlungen betreut. Je größer der Verlag ist, umso mehr geht es der Vertriebsorganisation am Arsch vorbei. Da wird man höchstens hellhörig, wenn ein Autor etwas in einer Buchhandlung direkt macht.

In den einzelnen Orten gilt: je größer die Buchhandlung ist, umso schwieriger wird sie zu motivieren sein, ein Schaufenster zu machen oder sich auch nur ein paar Bücher des Autors auf Vorrat hinzulegen. Da hört man Sprüche wie: „Die 100 Euro mehr oder weniger an Umsatz machen den Kohl auch nicht fett.“

Die kleinen, engagierten Buchhandlungen dagegen, springen sehr gern auf den Leseförderungszug, wenn er nur mit Volldampf fährt. Dafür haben sie für einen Büchertisch abends in einer Schule aber oft nicht genug Personal. Wer schleppt dann die Buchkisten in die Schule und steht nachts hinterm Büchertisch? – Genau. Unsere stillen Helden der Leseförderung.

Sie tun das nicht wie Märtyrer, an denen immer die Scheißarbeit hängen bleibt. Im Gegenteil. Es macht Freude, ihr heimliches Grinsen zu sehen, wenn die Bücherstapel auf dem Tisch immer kleiner werden. Wenn sich zwei Jungs, die gestern noch Lesen „völlig langweilig und bescheuert“ fanden, um das letzte Piratenbuch zanken.

Ihr Plan geht auf. Es ist ihnen gelungen. Der Lesevirus breitet sich in ihrer Umgebung aus.

Aber wo so viel Licht ist, kommen natürlich auch die Schatten besonders gut zur Geltung. Es gibt nicht nur diese wundervollen Lehrer, die um sich herum die Verhältnisse zum Tanzen und die Schüler und Kollegen zum Lesen bringen. Dieser Bericht wäre verlogen, würde ich nicht auch von den anderen erzählen: den Totalversagern. Den Pennern, die mit ihrer Dummheit, Ignoranz und Faulheit alles, was leicht ist, schwer machen und alles was locker ist, verkrampft, und in ihrer Selbstbezogenheit nicht mal merken, welch große Chance sie gerade verspielen.

Sie schaffen es, 180 Kinder in eine Turnhalle zu pferchen. Natürlich gibt es keine Stühle für die Kinder, auf dem Boden sitzt es sich ja viel bequemer, und auf die sanfte Frage des Autors, ob er vielleicht ein Mikrophon haben könne, antwortet der erfahrene Pädagoge: „Wieso? Können sie das denn nicht ohne? Also, da müsste ich jetzt erst den Hausmeister suchen, aber ich weiß nicht, ob der…“

Sehr beliebt sind auch Eingangs- oder Durchgangshallen. Die Schüler dürfen dann auf den Treppen sitzen.

Ich fragte einen Lehrer, ob er denn in so einer Situation unterrichten würde. Er schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ordnungsgemäßer Unterricht ist so nicht durchzuführen.“ Für eine Autorenlesung, so glaubte er, reiche es aber allemal.

Dass der Autor dabei noch viermal mehr Jugendliche vor sich sitzen hat als der Lehrer während des Unterrichts, ist für ihn eher unerheblich.

Autorenkollegen sind oft nette Menschen. Einfühlsam und verständnisvoll. Nicht alle haben das Durchsetzungsvermögen, in den wenigen Minuten vor Beginn der Veranstaltung für sich ein Setting zu organisieren, das eine erfolgreiche Lesung überhaupt erst möglich macht. Sprich, jeder Schüler hat einen eigenen Stuhl. Jeder Schüler sitzt so, dass er den Autor sehen kann. Die Schüler sind aus einer Altersstufe. Die akustischen Verhältnisse sind so, dass man den Autor, wenn er vorliest, hören kann. Er muss nicht schreien. Der Autor entscheidet, wann die Lesung beendet ist.

Das klingt jetzt alles sehr selbstverständlich. Ist es aber nicht. Ich erinnere mich an eine schöne Veranstaltung mit Drittklässlern. Drei dritte Klassen in einem Raum. Ich habe zwei Schulstunden zur Verfügung und einige mich mit den Schülern darauf, die Fünfminutenpause durchzumachen, damit die Lesung nicht unterbrochen wird.

Ich lese „Jens-Peter und der Unsichtbare.“ Die Lehrer amüsieren sich genauso gut wie die Schüler. Nach der ersten Kurzgeschichte beginnen die Schüler, Fragen zu stellen. Ich lese dann die zweite Geschichte vor, da geht plötzlich die Tür auf und ein Herr um die Fünfzig nickt mir freundlich zu.

Er hebt die Hand und sagt: „Lassen Sie sich nicht stören.“ Dann ruft er in den Raum: „Die 3 b jetzt bitte zu mir!“

Ich unterbreche natürlich die Lesung und frage ihn, ob das sein Ernst sei. Er sei gerade in eine Autorenlesung hineingeplatzt. Er könne sich gerne setzen und teilnehmen, aber die 3 b könne er jetzt natürlich nicht mitnehmen. Kein Künstler würde sich freuen, wenn man ihm das Publikum wegnimmt.

Er lachte, das mache doch alles gar nichts, dafür käme ja schließlich jetzt die 3 d zu mir.

Ich will das nicht und wehre mich. Er ist uneinsichtig und klagt mich sogar an, das sei ja wohl ungerecht, dann käme die 3 d ja nicht in den Genuss, der Raum sei schließlich zu klein für alle vier Klassen.

Drei Grundschullehrer sitzen hinten und erleben alles mit. Ich kann es ihnen ansehen: es ist ihnen peinlich. Sie kennen den Kollegen. Er ist der berühmte Elefant im Porzellanladen. So eine Sprechblasenfigur, über die man im Comic gut lachen kann.

Tilman Röhrig setzt bei seinen Lesungen gern die Lehrer auseinander, „weil die sonst so viel schwätzen“. Besonders beliebt bei Autoren sind auch Lehrer, die hinten sitzen und während der Lesung Hefte korrigieren. Ich spreche sie gern nach den Lesungen an und frage sie, ob sie wissen, was sie getan haben.

„Na klar“, sagen sie. „Hefte korrigiert.“

Aber das stimmt leider nicht. In der Tiefe haben sie den Schülern demonstriert, wie wertlos das ist, was da vorne passiert. Sie haben offenes Desinteresse an den Tag gelegt.

Manch Lehrerverhalten grenzt an Sabotage.

Wie kommt das? Sind sie dumm? Schlecht ausgebildet? Oder schlägt bei manchem eine Art pädagogische Eifersucht durch, wenn er sieht, dass seine Schüler einem anderen an den Lippen hängen und selbst die, die sonst immer so unruhig sind, plötzlich brave, aufmerksame Schüler werden?

Ich glaube, ihr Verhalten zeigt uns einfach nur, welche Bedeutung Literatur und Kunst sonst im Leben für sie haben. Nämlich überhaupt keine.

Ich wette, dass keiner dieser beispielhaft negativen Lehrer auch nur einen Satz von dem Autor gelesen hat, der in seiner Klasse zu Gast ist. Natürlich werden sie nie gegen Leseförderung auftreten. Sie glauben, dass es politisch korrekt sei, für Bücher und gegen Filme zu sein. Ihr letztes Buch haben sie während des Studiums gelesen und auch das nur, weil sie eine Facharbeit darüber schreiben mussten.

Solche Lehrer sind oft bei den Lesungen völlig erstaunt, denn wenn die Schüler Fragen stellen, erfahren sie auch einiges über den Autor – sofern sie nicht hinten Hefte korrigieren. Ich habe regelmäßig dann ihre volle Aufmerksamkeit, wenn sie hören, dass ich nicht „nur“ Kinderbücher geschrieben habe, sondern auch viele „Tatorte“, denn „Tatort“ gucken sie auch – sonntagabends, zusammen mit ihrem Lebenspartner, und dabei ein Gläschen Rotwein. Oft höre ich dann Sätze wie: „Ja, wenn ich vorher gewusst hätte, welch ein berühmter Mann an unsere Schule kommt, dann hätte ich natürlich…“

Lehrer, die sich lauthals beim Autor darüber beschweren, dass ihre Schüler eigentlich nicht mehr lesen, haben oft selbst ein sehr gebrochenes Verhältnis zum Buch. Was in solchen Fragen gipfelt, wie: „Ich hätte ja gerne meinen Schülern vorher ein Buch von Ihnen gezeigt. Aber wie soll ich denn da drankommen?“

Ich antworte dann gerne: „Bücher kauft man in der Metzgerei. Das weiß doch jeder. Da müssen Sie nur einen Ihrer Kollegen fragen.“

Neulich wendete sich ein Schüler verständnislos an seinen Deutschlehrer und fragte: „Warum haben Sie uns denn nicht gesagt, dass der Herr Wolf kommt? Ich hätte dann meine Bücher zum Signieren mitgebracht. Ich habe so einen Stapel von ihm.“

Peinliche Situation. Ja, warum hat der Lehrer den Schülern nicht gesagt, wie der Autor heißt, der sie besuchen kommt?

Nun, er ist einfach nicht darauf gekommen. Er war überlastet. Überhaupt sagen ihm die Namen der neuen Autoren wenig. Cornelia Funke hat er noch nichts gehört. Seine Kenntnis von Literatur endet bei dem jungen Martin Walser. Von dem hat er auch nichts gelesen, aber da hat es neulich mal einen Skandal gegeben. Hat der nicht auf einen Kritiker geschossen?

Schon sehr früh bekam ich als junger Autor von einem erfahrenen Kollegen den Rat: „Wenn du zu einer Schule musst, verlass dich nie auf die Anreisebeschreibung.“

Da ist etwas dran. Nur die wenigsten Lehrer wissen, mit welchen öffentlichen Verkehrsmitteln man ihre Schule erreichen kann. Ab Oberstudienrat spätestens ist so etwas vorbei. Dann muss man schon froh sein, wenn sie die Straße kennen, an der ihre Schule liegt.

Manchmal, wenn man vergessen hatte, mich abzuholen, stand ich in irgendwelchen verregneten Städten herum und wusste: Die Zeit läuft. Gleich fängt die Schule an. Du solltest längst da sein. Ach, was habe ich da schon Lehrer am Telefon stammeln hören, wenn sie mir den Weg erklären sollten.

Eins habe ich gelernt: Frag nie einen Erdkundelehrer. Dann muss ein Autor nämlich Gesteinsproben nehmen, um den Weg zu finden. Erdkundelehrer kennen sich überall aus, bloß nicht in der Stadt, in der sie leben.

Zum Abschluss möchte ich eine persönliche Geschichte erzählen. Sie ist gerade erst passiert. In Rheinland-Pfalz.

Ich war in einer Hauptschule. Nein, nicht in der Eingangshalle. Man gab mir den Musikraum. Alles lief klasse. Nach der ersten Lesung sagte mir die Direktorin: „Lassen Sie Ihre Sachen ruhig hier im Raum, ich schließe ab. Die nächste Lesung ist dann wieder hier.“

Ich weiß. Es war blöd von mir. Ich hätte alles mitnehmen müssen. Man darf sich auf so etwas nicht verlassen. Aber ich war gut gelaunt, die Sonne schien und ich hatte das Gefühl, es könnte ein Glückstag für mich werden.

Ich ließ meine Tasche mit Büchern und Autogrammkarten im Raum, ebenso eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, eine Tüte Hustenbonbons und meine Uhr. Ich lege meine Uhr immer auf den Tisch, um mit einem kurzen Blick die Zeit kontrollieren zu können.

Vor der zweiten Lesung trank ich mit den Lehrern eine Tasse Kaffee. Nicht sumpfig, keine Milch überm Verfallsdatum – welch ein Tag!

Aber dann war ich plötzlich ganz allein im Lehrerzimmer. Wie ein Bienenschwarm huschten sie auseinander.

Als ich den Musiksaal wieder gefunden hatte, herrschte dort schon gute Stimmung. Ungefähr 80 Acht- und Neuntklässler versuchten, sich gegenseitig niederzubrüllen. Ein Mädchen hatte Nasenbluten und ein Aussiedlerjunge fragte, ob er an der Veranstaltung teilnehmen müsse, denn ich hätte ja auch Bücher über Schwarze Magie geschrieben. Er meinte die Fantasyreihe „Das magische Abenteuer“ im Franz-Schneider-Verlag.

Ich sah sofort, dass meine Uhr weg war. Außerdem fehlten ein paar Hustenbonbons. Jemand hatte mir ins Wasserglas gespuckt, aber sonst war alles in Ordnung.

Nach einigen Minuten hatte ich es geschafft. Die Schüler saßen, die Lehrerinnen beruhigten sich. Das Nasenbluten kam zum Stillstand. Der Aussiedlerjunge blieb, setzte sich aber mit seinen Freunden in die letzte Reihe und wollte „auf keinen Fall bezahlen“.

Vor mir flegelten sich achtzig Jugendliche, die keine Lust hatten. Sie fanden Schule doof und wer da auftrat, musste auch doof sein.

Ich erzählte ihnen nicht von meinen Siegen, sondern von meinen Niederlagen. Von Romanen, die keiner drucken wollte, von Verfilmungen, die schief gingen, und etwas davon erreichte sie. Die ersten setzten sich anders hin. Die Gesichter entspannten sich. Ein angeblich hyperaktiver Junge in der ersten Reihe war besonders aufmerksam.

Schließlich kam es zu einem der großen Momente, wenn Künstler und Publikum sich begegnen: etwas, das immer wieder geschieht und vielleicht die eigentliche Triebfeder, warum Menschen wie ich so etwas tun. Plötzlich versteht man sich, entdeckt Gemeinsamkeiten, hat sich etwas zu sagen, lacht über die gleichen Dinge, hört sich gegenseitig zu. Es entsteht fast so etwas wie Komplizenschaft zwischen Publikum und Autor.

Ich sah in die Gesichter und dachte bei mir: Wer von ihnen mag deine Uhr geklaut haben, Klaus-Peter? Es tut ihm jetzt bestimmt leid. Jetzt, da du nicht mehr „irgend so´n Typ bist, der kommt, um uns was vorzulesen“, sondern ein Künstler, den man mag, ja mit dem man sich vielleicht sogar identifiziert.

Komischerweise ging ich davon aus, dass ein Junge die Uhr geklaut hatte. Keine Ahnung, warum.

Am Ende holten sie sich noch Autogramme, wollten meine Adresse wissen, um mir zu schreiben und irgendwie war alles gut – bis auf die Uhr. Ein Erbstück meines Vaters, die ich doch so gern wieder gehabt hätte.

Ich versuchte, den Schülern eine goldene Brücke zu bauen. Sagte, dass die Uhr mir sehr wertvoll ist, ich hätte die wahrscheinlich an der Schule verloren und wer sie findet, solle sie doch der Lehrerin geben.

Die Lehrerin zerstörte diese Brücke gleich auf pädagogisch sehr wertvolle Weise, indem sie rief: „Was? Hat einer Ihre Uhr geklaut?“

Ich gab meine Uhr schon verloren, denn wer jetzt mit der Uhr zu ihr kam, galt als Dieb.

Im Lehrerzimmer diskutierten wir noch eine Weile, warum die Schüler erst so abweisend waren und mir später so zugetan. Ich deutete an, das könne auch etwas mit der Vorbereitung zu tun haben.

Dann ging ich zu meinem Auto. Am Scheibenwischer baumelte die Uhr.

Irgendwie verbuchte ich das innerlich als Sieg. Als Zeichen, dass eine Autorenbegegnung – wie Hans Bödecker es immer so schön nannte – etwas bewegen und verändern kann.

Was du tust, macht einen Sinn, dachte ich und fuhr weiter in die nächste Stadt.

Die Abschiebung

Die Abschiebung

Die Abschiebung

Von der Idee zum Buch

Für das Jugendmagazin »elan« schrieb der Autor Klaus-Peter Wolf, wie die Idee für sein packendes Buch entstand
Eigentlich wollte ich mich an dem Abend vor der Friedensinitiative drücken. Ich war hundemüde und fühlte mich erschlagen. Ich fuhr trotzdem hin, ein bisschen aus Pflichtgefühl, ein bisschen aus Gewohnheit. Noch nie hatte ich meine ausländischen Freunde so freudestrahlend gesehen. Mahmut, der Kurde, erklärte mir, er müsste nicht mehr alle 14 Tage zur Ausländerpolizei, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, sondern nur noch alle acht Monate.
Stolz zeigte er mir das amtliche Dokument. Als ich den Text las, glaubte ich, für einen Moment in einen schlechten Film geraten zu sein. Mahmut, für dessen Anerkennung als Asylant wir seit Monaten kämpften, zog mit dieser Erklärung seinen Asylantrag zurück und versprach, binnen acht Monaten in seine Heimat zurückzufahren. Er wusste nicht, was er da unterschrieben hatte. Seinem Freund, dem Türken Demir, ging es genauso. Sie lieferten sich praktisch freiwillig den türkischen Behörden aus. Man hatte sie übel hereingelegt. Die Formulare gab es natürlich nicht in Türkisch. Die Asylanten waren gewohnt, bei ihren Besuchen auf der Ausländerpolizei etwas zu unterschreiben. Sie freuten sich, weil sie etwas von acht Monaten Aufenthalt hörten, und verzichteten ohne ihr Wissen auf alle ihnen zustehenden Rechte eines Asylverfahrens. Mit meinen Informationen gründeten Leute der Friedensinitiative ein Komitee zum Schutz der Asylanten. Wir machten ziemlich viel Wirbel. Sorgten für Presseberichte. Ich vergrub mich immer mehr in die Asylantenarbeit, besucht Prozesse, sprach mit Richtern, Anwälten und natürlich immer wieder den Betroffenen. Ich wollte meine Wut in eine Tat umsetzen. Ich schrieb den Roman: Die Abschiebung oder Wer tötete Mahmut Perver.

Klaus-Peter Wolf

Samstags, wenn Krieg ist

Samstags, wenn Krieg ist

Samstags, wenn Krieg ist

Erfahrungen mit Buch und Film

Ich habe es immer geliebt, mit meinen Büchern auf ausgedehnte Lesereisen zu gehen. Der Kontakt zu meinen Lesern war mir von Anfang an wichtig. Zwölf bis fünfzehn Wochen pro Jahr war ich für den Bödeckerkreis, diverse Büchereizentralen und Buchhandlungen unterwegs. Ich las in allen deutschen Bundesländern, in Österreich, Luxemburg und immer wieder in der Schweiz. Mit Schulklassen zu diskutieren, die vorher ein Buch von mir gelesen und die Verfilmung gesehen hatten, war für mich ein Privileg und ich habe es genossen. Ich machte bis 1990 mehr als 4000 Veranstaltungen. Aber dann begann sich etwas zu verändern. Es war zunächst ein schleichender Prozess. Ich habe ihn bewusst erst ab 1990 wahrgenommen.

In einigen Klassen herrschte auf einmal eine feindliche Atmosphäre. Da saßen Schüler stumm, manchmal grimmig grinsend, brütend, sie taten nichts, guckten nur voller Hass. 1992 war es für mich unübersehbar. Lehrer begannen zunehmend in ihren Klassen zu leiden, träumten vom Ausstieg. Es wehte in den Diskussionen plötzlich ein rauer Wind. Ich war es gewöhnt, dass Schüler und Lehrer sich auf mein Kommen freuten. Ich wurde als willkommener Gast behandelt. Nun weigerten sich an verschiedenen Orten Schüler, an meiner Veranstaltung teilzunehmen, weil sie „so einer linken Zecke“ nicht zuhören wollten. Mein Roman Die Abschiebung (vom ZDF 1984 verfilmt) war plötzlich an einigen Schulen als Klassenlektüre nicht mehr durchsetzbar. Dann wurde ich an einer Schule mit „Heil Hitler!“ begrüßt und am gleichen Tag schenkten mir Schüler einen Maulkorb. An den solle ich mich schon mal gewöhnen, für ein neues ’33.

Zum ersten Mal in meinem Autorenleben war ich kurz davor, eine Lesereise abzubrechen. In einem Kaff in Mecklenburg-Vorpommern besoff ich mich und wollte ernsthaft aufgeben. Aber dann geschah etwas anderes. In der gleichen Kneipe saßen einige der Schüler, die mir am Morgen so zugesetzt hatten. Ich sah sie erst, als ich zur Toilette ging. Ich hatte genug Rotwein intus, um sie anzuquatschen. Ich zeigte auf ihre kahl rasierten Schädel und fragte:

Warum lauft ihr eigentlich herum wie KZ-Häftlinge?
Nein, es gab keine Schlägerei. Vielleicht funktionierte noch ein Hauch von Schulautorität, jedenfalls fand ich mich an ihrem Tisch wieder und musste mir anhören, dass in den KZs gar keine Juden vergast worden seien. Später, viel später, als der Druck provozieren und schockieren zu müssen, nachließ, wurden langsam die Menschen hinter diesen hanebüchenen Thesen spürbar. Ich sah frustrierte Kinder, die von dieser Gesellschaft nur eine Botschaft wirklich glaubhaft gehört hatten: Wir brauchen euch nicht. Ich erlebte die großmäuligen Glatzköpfe plötzlich als Menschen, die verzweifelt ihren Platz in der Gesellschaft suchten, aber angeboten wurde ihnen nur Demütigung. Dem „Du bist nichts wert“ setzten sie ein trotziges „Wir machen euch alle platt“ entgegen.

Ja, so sehr sie mich auch erschreckten, ich begann sie zu verstehen. Sie waren so sehr auf der Suche nach jemandem, der ihnen ihren Stolz zurückgeben konnte, dass sie bereit waren, dafür jeden Mist zu glauben. Ich trieb mich wochenlang auf ihren Partys herum, besuchte schreckliche Konzerte und versuchte ihnen näher zu kommen. Fast immer stieß ich auf einen unaufgelösten Vater-Sohn-Konflikt. Oft auf nicht vorhandene oder sehr schwache Väter. Ich begann, Jugendarbeitslosigkeit als Verbrechen an den Seelen Heranwachsender zu begreifen. Die Arbeit am Roman Samstags, wenn Krieg ist ließ mich nicht mehr los.

Damals fragte mich ein Redakteur vom SDR Stuttgart (heute SWR), ob ich für den Sender eine neue Polizeiruf-110-Reihe entwickeln könnte. Ich erzählte ihm, womit ich mich gerade beschäftigte. Es wurde ein sehr langes Gespräch. Er fing sofort Feuer und wollte immer mehr wissen. Ich zeigte ihm die ersten vierzig Seiten von meinem Roman. Inzwischen hatte ich dafür einen Vertrag und schrieb unter Hochdruck. Im Sender stieß meine Idee auf viel Gegenliebe. Ich wurde dramaturgisch hervorragend unterstützt und noch während ich schrieb, suchten wir einen Regisseur. Ein junger sollte es sein, altersmäßig nah dran an den Hauptfiguren, mit einem cineastischen Blick und viel Einfühlungsvermögen. Ich traf Roland Suso Richter und wir verstanden uns auf Anhieb. Später machten wir noch einen weiteren Film gemeinsam, Svens Geheimnis.

Er schlug Heino Ferch als Wolf vor, Markus Knüfken als Siggi und Felix Eitner als behinderten Bruder Yogi. Ich wollte Angelica Domröse als Kommissarin. Meine Redakteure glaubten zunächst nicht daran, denn angeblich hatte Frau Domröse seit Jahren alle angebotenen Drehbücher abgelehnt und spielte nur noch in Wien Theater. Ich bat, ihr mein Drehbuch zu schicken. Sie war sofort mit von der Partie. Ich mochte ihre Zerbrechlichkeit. Wenn sie als Kommissarin Vera Bilewski die Waffe zog, kam mir die Pistole zu groß für sie vor. Ich glaubte nicht, dass sie in der Lage wäre, zu schießen. Die militante Körperlichkeit ihrer machohaften Gegenspieler kam so erst richtig zur Geltung. Nicht die Kommissarin bedrohte die Bande – die Bande bedrohte die Kommissarin.

Später schrieb ich (gemeinsam mit Ulrich Bendele) noch zwei weitere Polizeiruf 110 mit Kommissarin Vera Bilewski in der Hauptrolle. Kleine Dealer, große Träume und Hetzjagd.

Buch und Film Samstags, wenn Krieg ist hatten 1994 bei Presse und Publikum einen furiosen Start. Rasch waren zwei Hardcoverauflagen verkauft und 1995 erschien eine Taschenbuchausgabe. Bernhard Blees begleitete mich für den Südwestfunk drei Wochen lang auf meiner Tournee und drehte ein 45 Minuten langes Porträt über mich und meine Arbeit mit dem Buch. Ich hatte 180 Schul- und 35 Abendveranstaltungen in den ersten acht Wochen. Nur selten reichten die Stühle aus. Aber diese Lesereise war anders als frühere. Jetzt wurde mehr diskutiert und weniger vorgelesen. Lehrer, die in ihren Schulen Probleme mit Neonazigruppen hatten, luden mich gezielt ein.

Ich lernte eine junge Lehrerin kennen, die frisch an der Schule, die „schlimmste Klasse“ bekam, in der man alle die Schüler versammelt hatte, die niemand mehr unterrichten wollte. Aus vielen abgeschobenen Problemfällen hatte man eine Alptraumklasse gebaut, die sich jedem pädagogischen Einfluss entzog. Die junge Lehrerin wurde von den Jungs höchstens als Sexualobjekt ernst genommen. Schulsport war, dafür zu sorgen, dass sie heulend aus der Klasse rannte, was regelmäßig zweimal pro Woche gelang. Natürlich zweifelte sie inzwischen an sich selbst, ihrer Berufswahl und dem Leben an sich. Ich kam in ihre Klasse. Ich fühlte mich wie ein Gladiator in der Arena. Spaß machte das nicht. Aber unbeeindruckt ließ mein Auftritt die Jugendlichen auch nicht.

Ich erinnere mich an eine Lesung in einer kleinen Buchhandlung. Ein Bär von einem Mann stand auf, bei ihm seine zwei Köpfe kleinere Freundin. Er war höchstens fünfundzwanzig und sprach mit einer stockenden Stimme, die irgendwie nicht zu seinem Körper passte. Er sagte, er habe den Film zunächst gehasst, aber die Bilder hätten ihn auch nicht losgelassen. „Ich musste immer daran denken.“ Dann hätte seine Freundin ihm dieses Buch geschenkt. So, wie er das sagte, war allein der Gedanke, jemand könnte ihm ein Buch schenken, völlig absurd für ihn. Während er sprach, sah er immer wieder zu seiner Freundin, die ihm mit liebevollen Blicken Mut machte. Er habe „gelebt wie die“, sagte er und er hätte „jede Menge Türken geklatscht.“ „Beim Lesen habe ich kapiert, dass ich eigentlich immer nur sauwütend auf meinen Vater war. Aber das habe ich nicht wahrhaben wollen. Ich wusste gar nicht wohin mit meiner ganzen Wut.“ Ein paar Zuhörer klatschten ihm spontan, wenn auch verhalten, Beifall.

Wir sind nicht gewöhnt, hinter all der Randale und dem Politzirkus die menschlichen Schicksale, die gequälten Seelen zu sehen, die halb irre vor Zorn schreien und politisch instrumentalisiert werden. Der Film Samstags, wenn Krieg ist mit erstaunlichen Bildern von Kameramann Hans Grimmelmann lief bei den Münchener Filmfestspielen und wurde als „kleines Meisterwerk“ gefeiert (Fränkische Nachrichten). Anschließend wurde Samstags wenn Krieg ist um 20.15 Uhr im Abendprogramm der ARD ausgestrahlt und erhielt hymnische Besprechungen. Er wurde rasch in der ARD wiederholt und mehrfach auch in den Dritten Programmen. Im Sender überlegte man sogar, eine DVD-Edition aller drei Filme mit Vera Bilewski herauszubringen. Aber dann geschah etwas, zunächst ohne dass ich es bemerkte.

Der Film verschwand im „Giftschrank“ des SWR und wurde nicht mehr für Wiederholungen freigegeben. Bei mir häuften sich Anfragen, wann der Film denn mal wiederholt würde. Ich verwies an den Sender, aber Wiederholungen waren „nicht vorgesehen“. Die letzte Ausstrahlung fand am 20.02.2002 im SWR statt. Der SWR gab am 27.12.2006 die offizielle Mitteilung heraus: „Wegen der missverständlich aufgenommenen Darstellung von Gewalt in dem Polizeiruf 110 Samstags wenn Krieg ist hat der Fernsehdirektor des SWR den Film bis auf weiteres gesperrt, so dass der Film bis auf weiteres nicht wiederholt wird.“

Dies ist umso verwunderlicher, als dass Buch und Film fester Bestandteil des Deutschunterrichts an zahlreichen Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz geworden sind. Verzweifelt schrieb ich Briefe an den Sender und bat darum, mit mir zu diskutieren. Aber der Giftschrank öffnete sich nicht. Es kursieren nur noch ein paar DVDs und VHS-Kassetten. Ein Hauptschullehrer, der bedauerte, dass seine VHS-Kassette, mit der er den Film allen 8. Klassen vorgeführt hatte, kaputt gegangen war, kommentierte das so:

„Da mussten wohl ein paar Akademiker etwas gegen Gewalt im Fernsehen tun und “Samstags, wenn Krieg ist„ war das Opfer. Sie geben vor, etwas zu bekämpfen und erreichen in Wirklichkeit das Gegenteil. Jetzt fühlen die sich bestimmt alle ganz toll. Aber ich stehe wieder mit leeren Händen da. Mit dem Film habe ich die Kids erreicht. Wenn ich mit der Flut von pädagogisch wertvollen Materialien, die man uns tagtäglich aufdrängt, in der Klasse erscheine, ist das ja vielleicht politisch korrekt, ich ernte aber bestenfalls gelangweilte Schüler – falls sie mich nicht auslachen. Mit “Samstags, wenn Krieg ist„ hatte ich sie immer alle. Der Film hat sie emotional erreicht, weil er sie ernst nimmt.“

Ostfriesland

Ostfriesland

Ostfriesland

Die Geburtstätte des deutschen Kriminalromans

Die Geburtsstunde des Deutschen Kriminalromans erlebte ich, versteckt hinter Kartons mit Haarsprayflaschen und Dauerwellflüssigkeit, im zarten Alter von zehn Jahren im Friseurgeschäft meiner Mutter in Gelsenkirchen-Ückendorf. Dort lagen Illustrierte aus, die ich regelmäßig heimlich las. Ich blätterte im STERN auf der Suche nach Werbung für Damenunterwäsche und all den spannenden Dingen, wegen derer solche Zeitschriften meiner Vermutung nach „für Jugendliche ungeeignet“ sein sollten. Stattdessen fand ich „Gefährliche Neugier“ von Hansjörg Martin. Der Krimi spielte in Ostfriesland und die Sätze von Hansjörg Martin ließen mein Herz schneller klopfen. Natürlich wollte ich wissen, wie es weitergeht.

Ich stürmte in die Stadtbibliothek und wollte mir diesen Krimi ausleihen, aber die Bibliothekarin lächelte mich nur milde an. Ein Krimi von einem deutschen Autor – nein, das gäbe es nicht. Wir schrieben das Jahr 1964. Krimis kamen aus England und spielten in London oder vielleicht ganz modern aus den USA. Ermittelt wurde in den Häuserschluchten von New York, nicht etwa in Deutschland – und schon gar nicht in Ostfriesland. Edgar Wallace setzte Maßstäbe, es gab Raymond Chandler, Dashiell Hammett, für ganz Belesene noch Cornell Woolrich. Natürlich schrieben damals auch schon deutsche Autoren Krimis, Ernst Hall zum Beispiel bei Goldmann (Glocken des Todes, 1963), in der berühmten Roten Reihe, aber die spielten in einer südenglischen Moorlandschaft und der Kommissar hieß McFaverham und war Inspektor bei Scotland Yard. Aber das war ohnehin alles nichts für mich. Ich war ja erst zehn und sollte Enid Blytons Bücher lesen. Die interessierten mich aber nicht. Da wartete ich lieber auf die nächste Folge von Hansjörg Martin und tröstete mich solange mit Jerry Cotton in New York oder Edgar Wallace in London.

Dann publizierte der Rowohlt-Verlag die erste Reihe mit Krimis deutschsprachiger Autoren. Gefährliche Neugier von Hansjörg Martin machte den Anfang. Kein Schnaps für Tamara folgte. So ein Taschenbuch kostete damals eine Mark neunzig. Ich kaufte sie alle, die schmalen Bändchen der Schwarzen Reihe. Friedhelm Werremeier, Michael Molsner, das waren meine Helden. Und ihre Krimis unterschieden sich deutlich von den Übersetzungen. Sie nahmen gesellschaftliche Themen auf, erzählten von einem erschreckenden Hier und Jetzt, das einem doch irgendwie bekannt vorkam, obwohl es fremd war. Die Menschen wirkten, als könnten sie im Nebenhaus wohnen und sprachen auch so.

Hansjörg Martin läutete 1964 eine neue Ära ein. Er hatte auf Norderney zu schreiben begonnen, und seine Erfahrungen als Bühnenbildner bei der Ostfriesischen Landesbühne inspirierten ihn zu seinem ersten Krimi. Der Siegeszug des deutschen Kriminalromans begann in Ostfriesland. Bald schon schnellten die Auflagenzahlen hoch. Die Kritik belächelte das alles noch und das Fernsehen war noch längst nicht soweit, trotzdem sammelten sich hier bereits die späteren „Tatort“-Erfinder. Werremeier schrieb mit seinem Kommissar Trimmel den ersten ARD-Tatort: Taxi nach Leipzig. Damals stand im Vorspann noch: „Ein Film von“ und dann kam der Name des Autors, nicht etwa der des Regisseurs, der Hauptdarstellerin oder des Produzenten. Inzwischen hat fast jeder deutsche Verlag eine Krimireihe, selbst Suhrkamp steigt neuerdings in das Geschäft ein. Kein Wunder, 25 bis 30 Prozent aller verkaufter Belletristik sind Krimis – und immer noch ist das Epizentrum des Ganzen in Ostfriesland.

Welcher Verleger möchte nicht gerne eine eigene Ostfriesland-Krimireihe? Lübbe hat Theodor Reisdorf, rororo Sandra Lüpkes. Der Ostfrieslandkrimi ist nicht einfach irgendein Regionalkrimi, eine eigene Gattung ist entstanden. Die Anonymität, aus dem Großstadtkrimis ihren Grusel beziehen, gibt es hier nicht. Im Ostfrieslandkrimi wird die unverwechselbare Landschaft geradezu zum Protagonisten der Handlung. Je austauschbarer die Innenstädte der Metropolen werden, umso größer wird die Sehnsucht der Leser nach Unverwechselbarkeit. Das lesende Individuum will nicht im Einheitsbrei untergehen. Ob ich in München im Starbucks sitze oder in Zürich, wo ist der Unterschied? Aber es gibt nur ein Aggi Huus in Neßmersiel und das Café ten Cate kann man nicht mit Café Remmers verwechseln. Sie sehen nicht nur anders aus. Sie riechen anders. Ihre Kuchen haben unterschiedlichen Charakter, schmecken ganz anders und gehen wir von dort zu Grünhoff, tut sich wieder eine neue Welt auf – und wir reden jetzt nur über Cafés und Kuchentheken. Über vorgefertigte Sachen aus der Fabrik kann man hier nur lachen.

Ich könnte endlos weiter erzählen von der Welt, in der ostfriesische Kriminalfälle verortet sind. Als ich vierzehn war und wild entschlossen, Schriftsteller zu werden, begann ich, inspiriert von Hansjörg Martin und einem Urlaub an der Nordsee, meinen ersten Krimi. Er spielte natürlich an der Küste. Ich erinnere mich noch an die ersten Sätze: „Er saß in der Dunkelheit auf dem Deich und dachte: Alles ist weg. Meine Freundin, mein Geld, mein Auto und die Nordsee. Ebbe auf ganzer Linie.“ Der Roman wurde nie fertig, aber ich bekam eine Ahnung davon, wie die Landschaft die Betrachtungsweise von Menschen prägen kann. Hansjörg Martins Gefährliche Neugier und Kein Schnaps für Tamara wurden später – natürlich in Ostfriesland – verfilmt.

Inzwischen sind die Romane der Gründerväter des Deutschen Kriminalromans bei rororo längst nicht mehr im Programm, aber ein Weggefährte von ihnen, der Schriftsteller Frank Göhre aus Hamburg, selbst ein Großmeister des Krimigenres, hat die bahnbrechenden Werke seiner Kollegen in der Reihe Die kriminelle Sittengeschichte Deutschlands in der der kleinen Edition Köln neu herausgegeben. So wurde endlich auch Kein Schnaps für Tamara der Öffentlichkeit wieder zugänglich. Aus den deutschen Kriminalromanen, die heute oft abschätzig Regionalkrimis genannt werden, habe ich mehr über die Gesellschaft und ihre Veränderungen gelernt als aus soziologischen Studien und die Krimis waren weitsichtiger, in ihren Prognosen treffender – und unterhaltsamer waren sie allemal.

Inzwischen schickt eine neue aufregende Autorengeneration ihre Kommissare in Ostfriesland auf Verbrecherjagd. Peter Gerdes knorziger Stahnke gewinnt Fans. Ulrich Hafner, der Polizeipoet, wohnt zwar nicht hier, legt aber auch gerne Leichen hinter den Deich. Besonders originell ist das Trio Mortabella: Christiane Franke (Eine Mordsehe, SKN-Verlag), Regine Kölpin (Spinnennetz, Leda-Verlag) und Manfred C. Schmidt (Mord im Milieu, Lerato) haben sich zusammen getan, treten gemeinsam auf und publizieren als „Trio“ auch Kurzgeschichten. Viele müsste ich noch nennen, zum Beispiel den Publizisten Bernd Flessner (Knochenbrecher), ein Sprachkünstler mit Wortwitz, oder Regula Venske (Juist married). Die Krimilandschaft Ostfriesland ist bunt und groß. Es gibt viel zu entdecken.

Vom Autor zur Rampensau

Wie Cornell Woolrich meinen Deutschlehrer besiegte

Wie Cornell Woolrich meinen Deutschlehrer besiegte

Klassischer Schund

Empört nahm mir der Oberstudienrat das zerfledderte Taschenbuch ab. Statt über die gesellschaftliche Funktion von Minnesängern zu diskutieren, las ich so etwas! Ein einziger Blick auf den Umschlag genügte meinem Deutschlehrer. „Das ist Schundliteratur!“, verkündete er mit einem Anflug von Ekel um die Mundwinkel. Damit war mein gerade erst im Kaufhof vom Ramschtisch gestohlenes Taschenbuch konfisziert. Ich glaube, es war Der schwarze Engel. Jedenfalls ein Cornell Woolrich. Der Oberstudienrat ließ den Roman in seiner Aktentasche verschwinden und widmete sich wieder den Minnesängern. Ich saß nah genug an seiner Tasche, um das Buch zum zweiten Mal zu klauen, aber ich tat es nicht. Vielleicht gönnte ich ihm mal eine abwechslungsreiche Lektüre. Oder ich stand noch zu sehr unter dem Eindruck des gerade Gelesenen, jedenfalls saß ich den Rest der Stunde gleichmütig und regungslos ab wie eine Gletscherspalte.

Ich war knapp achtzehn und schrieb heimlich auf einer klapprigen Reiseschreibmaschine mit dem Adler-Such-System meinen ersten Roman: „Die Fliegen kommen“. Der Deutschunterricht half mir dabei wenig. Als angehender Romanschriftsteller suchte ich mir andere Lehrer: Cornell Woolrich, Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Allesamt hielt mein Deutschpauker sie für Schundautoren. In diesem Sinne wollte ich voller Begeisterung ebenfalls zum Schundautor werden. Klar, was die „ernsthaften Literaten“ machten, war allererste Sahne, aber für meinen Geschmack zu lange geschlagen, zu weiß gefärbt, zu steif. Ich schrieb nicht, um die Grazie meines Stils unter Beweis zu stellen und erst recht nicht, um meine Bildung vorzuführen. Ich wollte fesselnde Stories erzählen. Knapp, schnell, mit sparsamen Mitteln. Die Atmosphäre war mir fast wichtiger als die Handlung. Dafür hatte ich mir genau die richtigen Lehrmeister ausgesucht.

Durch kleine, alltägliche Handlungen das Entsetzen schimmern zu lassen, wer konnte es besser als Cornell Woolrich? Immer handeln seine Stories von einer Krisensituation. Er setzt seine Personen unter Druck. Sicherheit und Geborgenheit gibt es höchstens als Sehnsucht. Die Familie als Ort der Zuflucht existiert nicht mehr. Woolrich liebte wie Hammett und Chandler die Einzelgänger. Gescheiterte Zyniker. Gebrochene Charaktere. Einsame, nur sich selbst verpflichtete Menschen. Sie dienen keinen Idealen. Sie haben nur eine Partei, ihre eigene. Die Menschen leben mit den schlecht vernarbten Wunden ihrer Vergangenheit, können ständig eingeholt werden von alten Geschichten, die sie eigentlich lieber vergessen wollten. Deshalb wirken sie manchmal wie Marionetten an den Fäden ihrer eigenen dunklen Geschichte, die unsichtbar über ihnen schwebt wie das Fadenkreuz, das sie nach mystischer Regie tanzen lässt …

Sie sind Gefangene, egal wie wild sie sich auf der beleuchteten Bühne bewegen. Schneiden sie die Fäden ihrer Vergangenheit durch und flüchten so in die trügerische Freiheit, ist sie nicht mehr als ein lebloser Haufen Holz. Verlieren sie ihre Angst, so ist auch ihre Antriebskraft futsch. Kein Wunder, dass Woolrichs Stories als Filmvorlagen die Schwarze Ära begründeten. Der Film Noir entstand. Später fälschlicherweise immer wieder als Hollywoods Schwarze Serie bezeichnet. Die Filme entstanden in den vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre. Die Nachkriegswelt mit ihren entwurzelten Gestalten bot den zerrütteten Hintergrund. Schauspieler wie Humphrey Bogart in seiner Rolle als Chandlers Philip Marlowe machte der Film Noir weltberühmt. Regisseure wie Fritz Lang, Orson Welles, Alfred Hitchcock, Billy Wilder und Francois Truffaut schufen düstere Meisterwerke.

Was Woolrich, Chandler und Hammett mit der Magie der Sprache entwickelten: die beklemmende Atmosphäre, die auch durch spritzige Dialoge nicht zerstört werden konnte, dazu benutzten die großen Regisseure das Licht. Von der üblichen Beleuchtung wichen sie entscheidend ab. Sie machten keinen Unterschied mehr zwischen der Ausleuchtung einer Person und ihrer Umgebung. So entstanden Halbdunkelbereiche auch für die Spielszenen. Das übliche Führungslicht wurde konsequent reduziert. Ständig droht die Dunkelheit die handelnden Personen zu schlucken, sie gewährt ihnen aber auch Unterschlupf. Stellt vielleicht das letzte Stückchen Geborgenheit dar. Die neue Verwendung des Lichts verdinglicht die Personen. Lässt sie zu Teilen ihrer Umgebung verschmelzen.

Was für das Kino eine Revolution bedeutete und den Film Noir sogleich zum Kultfilm machte, ist aber keine Erfindung der Regisseure, wie uns gängige Filmbücher weismachen wollen. Nein, dies alles ist bereits angelegt in den Geschichten. Schauplätze sind nicht die Boulevards, nicht die Opern und Kunstpaläste, sondern schäbige Hotelzimmer, zwielichtige Bars, Hinterhöfe und dunkle Hafenviertel. Klaustrophobische Gefühle werden geweckt. Keiner ist wirklich irgendwo zuhause. Alle Orte sind nur Durchgangsstationen. Man ich ständig auf der Suche nach … oder auf der Flucht vor … Man hat später viel mystischen Unsinn in Cornell Woolrichs Schreibe hineingeheimnist. Psychologen und Literaturwissenschaftler gingen der Frage nach: Warum war Woolrich so düster? Nun, er war homosexuell, er war Alkoholiker und er lebte als Schriftsteller während der schlimmen McCarthy-Zeit in den USA. Wenn das nicht ausreicht, um depressiv zu werden …

Er musste sich mit einer zigtausendköpfigen Schar von Schreiberlingen an die literarischen Futtertröge drängen. Intrigen gediehen, Missgunst und Verrat. Ein politischer Verdacht vor dem Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe konnte von heute auf morgen brotlos machen. Und egal, wie gut er war, als Autor für Pulp-Magazine galt er nicht nur meinem Deutschlehrer als Schundschreiber, sondern erst recht der amerikanischen Literaturkritik, die nach langem Ringen vielleicht Dashiell Hammett anerkannte und kurz vor seinem Tod auch Raymond Chandler, aber niemals Cornell Woolrich.

Da nutzte es ihm auch nichts, dass Hitchcocks Verfilmung von Das Fenster zum Hof ein Welterfolg wurde. Sidney Pollack und Francois Truffaut brachten Die Braut trug Schwarz auf die Leinwand. Eine Weile ging es Woolrich finanziell sogar gut. Aber die Anerkennung, die er suchte, fand er nicht. Und er wusste, wie brüchig finanzielle Erfolge waren. Wie seine Helden befand er sich ständig auf der Suche nach dem großen Coup, dem ganz dicken Geld, das unabhängig machen sollte und frei. Wie seinen Helden gelang es ihm nie. Was er ergatterte, zerrann zwischen seinen Fingern.

Er lebte wie viele seiner Kollegen in Hotels. In einem dieser heruntergekommenen New Yorker Hotels starb er einsam im Jahr 1968. Er soff wie Chandler, um sich zu betäuben und den Kopf für eine halbwegs schlüssige Geschichte klar zu kriegen. Vermutlich trank er sich auch wie sein großer Kollege zu Tode. Trotz seiner Sauferei gelang es ihm immer wieder, Dinge nicht kompliziert darzustellen, sondern komplex.

Wie groß der Einfluss von Woolrich, Hammett und Chandler damals auf mich war, erkannte ich erst jetzt, als ich ein altes Deutschaufsatzheft von mir wieder fand. Ich benutzte ihre Formulierungen, ahmte ihre Sprache nach, was mir natürlich misslang. Bei mir „öffneten sich Zahnreihen wie ein Reißverschluss“, waren Männer „harte Brocken“ und es gab „Grünschnäbel und eiskalte Engel“. Immer wenn ich so eine Formulierung entlieh, kreiste mein Deutschlehrer sie rot ein und schrieb ein großes A für „Falscher Ausdruck“ an den Rand.

Ich stand in Deutsch auf einem glatten Mangelhaft. Aber ich lernte, Romane zu schreiben.

Begegnungen mit Max von der Grün

Begegnungen mit Max von der Grün

Begegnungen mit Max von der Grün

Bevor ich Max von der Grün persönlich kennen lernte, hatte ich bereits zwei seiner Bücher verschlungen: Irrlicht und Feuer und Fahrtunterbrechung. Ich wollte Romanschriftsteller werden und war auf der Suche nach Vorbildern. Max von der Grün war ein Held für mich, ebenso wie Hans Fallada, Heinrich Böll, und, ja, ich gebe es zu, ich mochte auch Johannes Mario Simmel. Aber die Bücher von Max berührten mich anders.

Ich kannte die Menschen, von denen er sprach, genau so waren sie, die Leute, zwischen denen ich im Ruhrgebiet aufwuchs. Dann kam es – ich glaube, in Witten – zu einem ersten Treffen. Bezeichnenderweise fand es auf einem Marktplatz statt, zwischen den Ständen. Links neben uns verkaufte einer Bratwürstchen, rechts neben uns Obst. In der Mitte dazwischen ein Tisch, auf dem Literatur angeboten wurde. Wir Autoren sollten dort lesen. Richard Limpert und Josef Büscher, die Bergarbeiterdichter aus Gelsenkirchen, hatten mich mitgebracht. Ich war siebzehn Jahre alt, gerade wieder mal dabei, auf dem Gymnasium sitzen zu bleiben und hatte erste Geschichten und Gedichte in Zeitungen veröffentlicht. Hier sollte ich jetzt lesen. Ich sah die Situation und schämte mich in Grund und Boden. Wer, bitteschön, sollte denn hier zuhören? Die Leute hasteten mit ihren Einkaufstüten vorbei, stritten sich lauthals über die Fußballergebnisse und Tauben pickten auf dem Boden die Krümel auf, die um den Abfalleimer verstreut lagen. Ich war sofort der Meinung, diese ganze Aktion könnte nicht gelingen, alles sei blödsinnig und müsse abgeblasen werden. Wir würden uns doch nur lächerlich machen. Nein, hier will uns kein Mensch zuhören.

Noch bevor ich ihn sah, roch ich den Tabaksqualm seiner Pfeife. Dann stand Max von der Grün neben mir. „Na, hasse Schiss?“, fragte er mich und ich bekam nicht mal einen vernünftigen Satz heraus, sondern brummte etwas wie: „Hmm.“ Kurze Zeit danach begann der von mir bewunderte Autor tatsächlich mit der Lesung. Er benutzte dabei ein Megaphon (kein Mikrophon, ich rede wirklich von einem Megaphon. So einer Flüstertüte mit einem ganz schrecklichen Klang) und Max las nicht irgendwelche kämpferischen Gedichte vor, die man den Leuten vielleicht im Vorbeigehen zuschreien konnte, oh nein. Er trug eine Erzählung vor. Ja, geschlagene zwanzig Minuten lang las er ohne großes Aufhebens von sich zu machen, fast ohne Gesten, ganz ruhig eine Erzählung.

Und das Unmögliche geschah: Menschen blieben stehen, hörten zu, stellten ihre Einkaufstüten neben sich auf den Boden und schon nach kurzer Zeit war Max gar nicht mehr zu sehen, so groß war die Menschentraube, die ihn umgab. Ein kleiner Junge fiel mir auf, der seine Mutter weiterzerren wollte, doch sie sah ihn streng an und zischte ihm ein „Pssscht!“ zu. Ich beobachtete den Jungen. Max las eine Erwachsenenerzählung. Ein bisschen traurig war sie und so gar nichts für Kinder, dachte ich. Doch nach kurzer Zeit hatte er auch die Aufmerksamkeit des Jungen. „Siehste, geht doch“, sagte Richard Limpert zu mir und stupste mich dann an, dass ich nun beginnen sollte. Und irgendwie schaffte ich es dann, zwischen Ohnmacht und Tagtraum eine Kurzgeschichte vorzulesen. Ein paar Leute gingen. Jeder Einzelne tat mir weh. Aber eins wog alles auf: Max blieb da, sog an seiner Pfeife und hörte mir zu.

Als wir fertig waren, sagte Josef Büscher: „Na, willzn Pils?“ Gemeinsam gingen wir vier in eine Kneipe und tranken im Stehen am Tresen. Irgendwie war das meine Feuertaufe als Autor und wir lachten, hatten Spaß miteinander, erzählten uns immer wieder von den Gesichtern einzelner Menschen. Ich hatte mir in meiner überheblichen Gymnasiastenart den Arbeiterdichter – so wurde Max oft genannt – ganz anders vorgestellt. Irgendwie ungebildeter. Aber er hatte während der Kriegsgefangenschaft Hemingway, Faulkner, Upton Sinclair, John Steinbeck, Jack London, B. Traven, Shakespeare und James Joyce gelesen und zwar in der Originalsprache. Autoren, die ich gerade in Deutsch für mich entdeckte. Er konnte Goethes Faust, mit einem Bier in der Hand, auswendig zitieren und zwar endlose Passagen lang.

Jeder gab mal eine Runde und als es am Ende ans Bezahlen ging, kramte ich wohl ziemlich lange in meinen Taschen, denn Max übernahm meinen Deckel. Er musste zurück nach Dortmund und ich mit Josef Büscher und Richard Limpert nach Gelsenkirchen. Wir waren mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen. Richard regte sich über die „unverschämten Fahrpreiserhöhungen“ auf. Als wir uns verabschiedeten, drückte Max von der Grün mir ein Fünfmarkstück in die Hand, einen sogenannten Heiermann. Max sagte kein Wort dazu. Ich spürte nur die Münze in meiner Hand brennen und als ich ihn darauf ansprechen wollte, guckte er mich so an, dass es mir unmöglich war, etwas dazu zu sagen. Ich vermute, er hatte Angst, ich könnte mir die Rückfahrkarte nicht leisten, denn ich hatte erwähnt, dass die Veranstalter uns ja ein Honorar versprochen, das aber nicht ausgezahlt hatten. Sie wollten jedem von uns fünfzig D-Mark überweisen und ich ließ den Satz fallen: „Bargeld wäre mir lieber gewesen.“

Diese fünf Mark waren damals sehr wichtig für mich. Es war so etwas wie ein Zeichen, dass ein großer Autor an mich glaubte. Und ich schwor mir, sollte ich es jemals schaffen und mich „freischreiben“, wie Josef Büscher und Richard Limpert es nannten, würde ich Max die fünf Mark zurückgeben.

Jahre später, ich war inzwischen fünfundzwanzig, gab es eine weitere Begegnung mit Max von der Grün, die ich nie vergessen werde. Ich war von dreizehn Autoren zum Geschäftsführer des ersten wirklich autoreneigenen Verlages der Bundesrepublik gewählt worden. Wir wollten mit dem Literarischen Verlag gegen die Bertelsmänner antreten und all den großen Buchfabriken zeigen, wie man richtig spannende Literatur macht. Leider überschätzten wir uns und unsere Fähigkeiten und ich musste dreizehn Monate später Konkurs anmelden. Ich hatte viel Geld verspielt, das mir nicht gehörte und dazu blieben 2,7 Millionen D-Mark Schulden an mir persönlich kleben. Eine, wenn man fünfundzwanzig Jahre alt ist, vollkommen unvorstellbare Summe. Viele Leute verloren Geld, unter ihnen auch einige Autoren, die für den Verlag gebürgt oder mir Geld geliehen hatten. Meine Frau war gerade schwanger, ich hatte die Wohnung verloren, weil wir, um aus Arbeit und Leben eine Einheit zu machen, alle gemeinsam im Verlagsgebäude wohnten, unsere Autos waren gepfändet und ein übereifriger Gerichtsvollzieher hatte sogar meine Schreibmaschine mitgenommen.

Einige Leute taten aber so, als sei ich ein abgezockter Hund, der mit jeder Menge Kohle durchgebrannt wäre, was nicht den Tatsachen entsprach. Man strengte sogar mehrere Gerichtsverfahren gegen mich an, das vermutlich originellste wegen Diebstahls eines Autorenporträts schwarzweiß. Ich war ganz unten angekommen. Das letzte, was ich nun verlor, war mein guter Ruf. In Leverkusen tagte der Schriftstellerverband und ich beschloss, hinzufahren. Es fiel mir unglaublich schwer. Ich hatte Angst davor, den Kollegen zu begegnen und doch wusste ich, dass ich mich dieser Situation stellen musste. Gerade jetzt, in der heißen Phase des Konkurses, in der so viele Gerüchte blühten. Ich kam ein bisschen zu spät und mit zittrigen Beinen ging ich ins Kongressgebäude. Ein Kollege, Rainer Horbelt, stand rauchend draußen vor der Tür und rief mir fröhlich zu: „Na, dass du dich hierhin traust! Du hast ja Nerven!“ Ich wäre am liebsten wieder umgekehrt und weiß nicht, woher ich den Mut nahm, doch reinzugehen, vorbei an ein paar Kollegen, einer klopfte mir auf die Schultern und sagte höhnisch: „Na, Klaus-Peter, Freigang in der JVA?“

Innen war ein Podium aufgebaut, auf dem Max zusammen mit anderen Autoren saß und eine politische Stellungnahme abgab, die aber völlig an mir vorbeirauschte, weil ich noch wie benommen von der Begrüßung draußen ziemlich weit hinten stand und mich nicht traute, nun durch die Reihen zu einem freien Platz nach vorne zu gehen. Da stand Max auf, verließ das Podium, lief mit offenen Armen auf mich zu, drückte mich an sich und rief: „Der Klaus-Peter! Schön, dass du da bist, Junge! Ich hoffe, du überstehst das alles. Dir bläst der Wind ja gerade gewaltig ins Gesicht.“ Er sagte noch viel mehr, aber das hörte ich nicht mehr. Seine Begrüßung, so laut, öffentlich, vor allen, die demonstrative Umarmung – das war wie ein Ritterschlag. Was sollte mir jetzt noch passieren? Wer wollte mich jetzt noch angreifen?

Dann gesellten sich andere Kollegen zu uns. Josef Reding kam, Herbert Somplatzki und Volker W. Degener. Ich traute mich gar nicht weg aus der Nähe von Max. Es war, als würde ich in seiner Aura von einer Art Schutzhülle umgeben. Ich war als Schwarzfahrer gekommen und hatte weder Geld, mich dort zu verpflegen noch für die Rückfahrt. Ich behauptete also in der Mittagspause, keinen Hunger zu haben, weil ich schon gegessen hätte. Max sah mich an, verzog den Mund und zischte: „Erzähl doch nicht so´n Scheiß!“ Dann bestellte er eine Mahlzeit für mich. Er tat das leise, unspektakulär, ohne irgendein Aufsehen zu erregen. Ich verstand, er wollte mir die Ehre lassen. Ich hätte ihm gerne die fünf Mark zurückgegeben, die ich ihm noch aus Witten schuldete. Doch von meiner Zeit als Schüler am Grillo-Gymnasium bis zu diesem Autorenkongress war es nicht gerade bergauf mit mir gegangen. Trotzdem verließ ich den Kongress irgendwie gestärkt. Als Sieger. Ein zweites Mal hatte seine Anerkennung mich gerettet.

Im Februar 1987 kam es dann zu unserem dritten, denkwürdigen, für mich unvergesslichen Treffen. Ich hatte mich mit Romanen als Autor etabliert und das Glück, fürs Fernsehen schreiben zu dürfen. Der Filmproduzent Günter Herbertz ließ mich ganze Serien entwickeln und ich war in der Lage, meine Schulden abzubezahlen. Es war nicht immer einfach, aber es ging mir gut und ich konnte mit meiner Kunst meine kleine Familie ernähren. Ich hatte mich „freigeschrieben“. Max von der Grün war auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Vorstadtkrokodile war zur Schullektüre geworden und Max ein international renommierter Autor, dessen Romane verfilmt wurden. Irrlicht und Feuer in der DDR, die anderen dann auch in Westdeutschland.

Ich stand zuhause und bügelte (ja, ich weiß, das hört sich lächerlich an) einen pinkfarbenen Rüschenrock meiner Tochter, als die Postbotin klingelte und mir ein merkwürdiges Telegramm brachte. Es kam aus Moskau und hatte 371 Worte. Angeblich war es von Dschingis Aitmatow und Michail Gorbatschow. Ich wurde darin zu einem Forum nach Moskau eingeladen, in dem es um die Erhaltung der Zivilisation und des Friedens auf Erden gehen sollte. Es las sich dramatisch. Die Welt stand an einem Abgrund (wer wollte das bezweifeln?), mitten durch Deutschland verlief eine schreckliche Grenze, die Weltmächte bedrohten sich gegenseitig mit Atomraketen, und es konnte jederzeit losgehen. Ein zufällig anwesender Freund sagte: „Wenn sie dich jetzt brauchen, um die Welt zu retten, Klaus-Peter, dann sieht es wirklich finster aus. Ich an deiner Stelle würde fahren.“ Aber ich war mir gar nicht so sicher, ob dieses Telegramm echt war. Kam es wirklich von Michail Gorbatschow und Dschingis Aitmatow oder machten sich nur ein paar besoffene Freunde von mir mit ihrem letzten Geld in Moskau kurz vor dem Heimflug einen Witz? Ich rief Max an.

Wie immer am Telefon meldete er sich erst mal bärbeißig und abweisend. Als er dann hörte, wer dran war, wurde er freundlich. Ich erzählte ihm von dem Telegramm und fragte ihn, was er davon hielt. Er selbst hatte auch vor wenigen Minuten so ein Telegramm erhalten und wusste es selbst noch nicht genau einzuordnen. Wollte uns da jemand im großen Stil reinlegen? Wir beschlossen, jeder einen anderen Kollegen anzurufen, um zu sehen, ob „die auch so etwas bekommen haben“. Wir machten eine kurze Liste der Kollegen, „die man bestimmt auch angeschrieben hat, wenn das echt ist.“ Ich rief Bernt Engelmann und Günter Wallraff an. Beide hatten auch so ein Telegramm erhalten. Die sowjetische Botschaft wusste von nichts, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik hatte völlig andere Sorgen, aber Max erreichte Josef Reding und auch der Kollege hatte eine Einladung bekommen. Wir entschieden uns also dafür, dass es sich nicht um einen dummen Witz handelte und trafen uns wenige Tage später am Flughafen Köln-Bonn.

Nur Bernt Engelmann war nicht da. Er zog es wegen seiner Flugangst vor, mit dem Zug nach Moskau zu fahren. Aber es kamen auch noch andere, die wir nicht angerufen hatten, z.B. Lothar Günther Buchheim (Autor von Das Boot), die Schauspieler Maria und Maximilian Schell und Hanna Schygulla. Ein paar Wissenschaftler, die ich nicht erkannte, waren auch da. Die Wissenschaftler flogen zweiter Klasse, die Künstler erster Klasse. Das ließ sich ganz gut an, fanden Max und ich. Im Flugzeug dann wurde uns Schampus und Kaviar geboten. „Wenn wir so die Welt retten können, sind wir doch dabei“, grinste Max und zwinkerte mir zu. Wir saßen nebeneinander und wir waren beide schrecklich nervös. Wir begannen zu kapieren, dass man Künstler eingeladen hatten, die in der Sowjetunion sehr bekannt waren. Alle Autoren hier im Flugzeug waren ins Russische übersetzt worden und hatten dort große Auflagen. Hanna Schygulla war durch die Fassbinder-Filme in der Sowjetunion eine unglaublich bekannte Schauspielerin, Maria und Maximilian Schell kannte auch jeder.

Gemeinsam gingen wir ins Cosmos-Hotel. Petra Kelly (damals Bundestagsabgeordnete der Grünen) war auch da und Andrej Sacharow, den ich nur mit der Zusatzbezeichnung „Regimekritiker“ kannte. Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch kamen zeitgleich mit uns an. Peter Ustinov wollte einen ausgeben, das ging aber nicht, weil wir die Drinks an der Hotelbar nicht bezahlen konnten, schließlich waren wir geladene Gäste. Mir wurde ganz komisch, als neben mir auf der Toilette plötzlich Graham Greene stand und als Max und ich im Fahrstuhl hochfuhren, stieg mit uns Yoko Ono ein. Sie trug ein Kleid, das ein bisschen aussah, als hätte sie es auf dem Flohmarkt gekauft. Wir sahen uns an, grinsten, sagten aber beide nichts. Sie beschwerte sich darüber, dass ihr der Kaffee nicht schmeckte und als wir zu unseren Zimmern gingen, tänzelte Max plötzlich vor mir her und machte Yoko Ono nach. „Just wanna have a coffee.“

Ich erlebte die Tage wie im Rausch. Ich war nicht müde, ich kannte keine Uhrzeit und Max ging es genauso. Wir blieben immer auf Sichtkontakt, als müssten wir uns gegenseitig vergewissern, dass das hier gerade wirklich stattfand. Gorbatschow redete davon, dass es so nicht weitergehen könne und beschrieb uns eine Zukunftsvision, wie wir sie kühner kaum hätten träumen können. Die gigantischen finanziellen Mittel, die das Wettrüsten jetzt noch verschlang, sollten freigesetzt werden, um Hunger und Elend in der Welt zu bekämpfen, wodurch auch die Kriegsgefahren eingedämmt werden sollten. Es wurde ein offenes Wort gesprochen, freie Reden gehalten, niemand musste vorher ein Manuskript abliefern. Ich hatte im Westerwald an einer Luftballonaktion gegen Tiefflieger teilgenommen und war angezeigt worden, wegen Behinderung des Luftverkehrs über der Bundesrepublik Deutschland. Max fand, ich solle das thematisieren, das gehöre genau hierhin. Ich war unentschlossen, mich zu melden, bei all den Geistesgrößen glaubte ich, dass es mir gar nicht wirklich zustand, etwas zu sagen. Aber Max ließ mich auf die Rednerliste setzen und Engelmann führte seinen Vorschlag aus.

Als ich dann von der Luftballonaktion sprach, erntete ich spontanen Beifall von Peter Ustinov, der sofort begann, ein Bild zu malen, das ihn als riesigen Luftballon zeigte und er verkündete: „Keine Sorge, Klaus-Peter, wir lassen dich nicht hängen. Wenn der Prozess stattfindet, kommen wir alle.“ (Unnötig zu erwähnen, dass das Verfahren gegen mich auf dem Gnadenwege eingestellt wurde.) Gemeinsam mit Max besuchte ich das Bolschoi-Theater. Neben uns saß ein miesepetriger Max Frisch, der glaubte, das alles käme sowieso zu spät. Er war pessimistisch für die Welt und hatte Mühe, dem Tanz etwas Positives abzugewinnen. An einen guten Ausgang der Konferenz glaubte er ohnehin nicht. So wie Petra Kelly Sacharow anschaute, hätte man glauben können, dass sie verliebt in ihn war. Ihre Verehrung für ihn hatte für mich schon etwas Religiöses, ja, fast Peinliches. Ich flüsterte das Max zu und er sagte, er frage sich auch, ob der leidenschaftliche Atomkraftbefürworter Andrej Sacharow unbedingt der richtige Bündnispartner für die Grünen in Moskau sei.

Am Abend des zweiten Tages, nach den Besprechungen im Kreml und der klugen Rede von Graham Greene, kam es an der Hotelbar fast zu einer Schlägerei. Max ließ sich von zwei Wirtschaftsbossen aus Baden-Württemberg provozieren. Einer sagte leicht besoffen, „es wäre für die Russen besser gewesen, wenn sie den Krieg verloren hätten“, was Max auf keinen Fall so stehen lassen konnte. „Lass die Idioten doch einfach“, sagte ich mehrfach und wollte ihn wegziehen, aber das war mit ihm nicht mehr zu machen. Unsere anderen Gesprächspartner, wie Klaus-Maria Brandauer, waren längst gegangen. Am nächsten Tag setzten Bernt Engelmann und Max ein Telegramm an Ronald Reagan, den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten auf, ein solches Treffen, wie jetzt in Moskau, auch in den USA zu ermöglichen.

Obwohl wir nur noch wenige Stunden Schlaf vor uns hatten, saßen Bernt Engelmann, Max und ich nachts lange zusammen und fragten uns, welche Bedeutung das Ganze für den Rest unseres Lebens, ja, für die Welt, haben würde, denn wir waren uns durchaus bewusst, gerade Teil von etwas Großem zu sein. Zeugen einer gewaltigen Umwälzung. Wir wurden uns rasch einig, dass die Mauer bald fallen würde. Als wir in Deutschland landeten, war ich dumm genug, diesen Gedanken aufzunehmen. Von einem Westdeutschen Journalisten wurde uns vor laufender Kamera vorgeworfen, wir hätten uns zu Idioten der sowjetischen Außenpolitik machen lassen, dadurch würde zum Beispiel die Mauer in Berlin verharmlost. Ich sagte: „Die Mauer wird bald schon kein Thema mehr sein. Wenn die überhaupt noch irgendwo steht, dann im Museum.“

Max prophezeite mir damals noch in der Flughafenhalle, dass dieser Satz zwar vermutlich richtig sei, aber ich könne mich auf eine Menge Schwierigkeiten gefasst machen. Er hatte, wie so oft, recht. Das Zitat von mir wurde gesendet und nachgedruckt, Schulen luden mich aus, Veranstaltungen platzten. Eine ganze geplante Lesereise wackelte plötzlich. Einige luden mich verschämt, mit fadenscheinigen Begründungen, aus, andere schrieben mir zornige Briefe, jemanden, der so dumm daherrede, wolle man nicht auf die Schüler loslassen. Ich solle doch nach drüben gehen, wenn es mir dort besser gefiele.

Niemand von denen hat sich zwei Jahre später, als die Mauer dann wirklich fiel, bei mir entschuldigt.

Als Max und ich uns trennten, umarmten wir uns heftig und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm etwas in die Hand zu drücken: ein Fünfmarkstück. Ich musste nichts erklären. Er verstand es ohne Worte und zwinkerte mir zu. Ich nehme die Romane von Max von der Grün immer wieder zur Hand und lese in ihnen. Manchmal kommt es mir dann vor, als würde ich seinen Pfeifentabak riechen. Noch heute verneige ich mich vor dem großen Meister und bin dankbar für jeden Moment, den wir miteinander verbringen konnten. Max starb am 7. April 2005. Er fehlt mir sehr. Ich wollte ihn noch so viel fragen …

Klaus-Peter Wolf