Rolf Stindl – Bremerhaven

Wenn man in Autorenkreisen abends zusammensitzt und jemand die Frage stellt, wer eigentlich in der Bundesregierung für Kultur zuständig ist, guckt man in ratlose Gesichter und einige fangen gleich heimlich unterm Tisch an zu googeln. Fragt man, wer Rolf Stindl kennt, sieht man leuchtende Augen und jeder hat gleich eine Geschichte zu erzählen.

Wir ehren heute nicht irgendeinen Mann, der viel für die Leseförderung getan hat. Oh nein. Wir ehren einen Mann, der hier in Bremerhaven ein weit ins Land sichtbares Leuchtfeuer angezündet hat. Vor fast 40 Jahren gründete er mit einigen Gleichgesinnten den Friedrich-Bödecker-Kreis im Lande BREMEN e. V., dessen Vorsitzender er immer noch ist.

Meine liebe Frau Bettina Göschl kam vor gut 12 Jahren geradezu euphorisiert aus Bremerhaven zurück und erzählte mir, Rolf habe ein Projekt vor: Bücherkindergärten! Sie war von Anfang an begeistert mit dabei. Das war genau ihr Ding.

Selbst in Bödeckerkreisen erntete dieser Gedanke bei vielen Kolleginnen und Kollegen, aber auch bei vielen Veranstaltern nur Kopfschütteln. „Die können doch noch gar nicht lesen.“ Es galt damals als ausgemacht, dass richtige Lesungen im Grunde erst in der 3. Klasse beginnen. Die Bücherkindergärten wurden aber, dank deiner klugen und beharrlichen Arbeit, eine Erfolgsgeschichte, lieber Rolf, auch sie mit einer Strahlkraft weit über Bremerhaven hinaus.

Du hast aus Bremerhaven ein Epizentrum der Leseförderung gemacht und auch am Erfolg meiner Ostfriesenkrimis bist du nicht ganz unschuldig. Als die Bücher noch nicht auf den Bestsellerlisten standen und ich noch keine Hallen füllte, hast du Lesungen im Amtsgericht für mich organisiert. Buchhandlungen wollten mich damals noch nicht: „Da kommt doch sowieso keiner“. Das Amtsgericht wurde bald zu klein.

Bettina gab hier im TiF ihre ersten großen Kinderkonzerte und zehnmal konnte ich an diesem Ort bekanntgeben, dass der neue Roman auf Platz 1 in der Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen ist. Immer einen Tag, bevor es in „Spiegel online“ nachzulesen war, denn hier startete immer die Tournee.

Rolf und seine gute Hildegard saßen immer spitzbübisch grinsend in der ersten Reihe. Der Erfolg war und ist auch ihr Erfolg. Sie sind seit 1970 verheiratet. Auch in dieser Frage ein Vorbild. Vier erwachsene Kinder gingen aus ihrer fruchtbaren Verbindung hervor und neun Enkel gibt es auch schon. Welch ein erfülltes Leben!

Du warst zehn Jahre lang, bis 1995, Vorsitzender der CDU-Stadtverordneten-Fraktion. Was dich für mich als damals dezidiert linken jungen Autor durchaus verdächtig gemacht hat.

Aber dann passierte etwas. Michail Gorbatschows Politik veränderte die Sowjetunion und damit auch den Rest der Welt auf damals unvorstellbare Weise. Ich war eingeladen, darüber zu schreiben, ein Buch, das gleichzeitig auf Deutsch und Russisch erschien. Glasnost und Perestroika waren die Zauberworte. Mauern sollten eingerissen und verknöcherte Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden. Aber 1987 war noch lange nicht klar, ob Gorbatschow sich würde halten und durchsetzen können. Im Ausland glaubte man ihm nicht und im Inland gab es scharfe Gegner. Er machte einen klugen Schachzug: er lud Künstler zu einer Friedenskonferenz ein, die in der Sowjetunion bekannt und beliebt waren. Somit wollte er innenpolitisch eine Stabilisierung und außenpolitisch zeigen, dass er es ernst meinte. Ich gehörte zu den eingeladenen Gästen. Mit Dürrenmatt, Max Frisch, Günter Wallraff und Max von der Grün fuhr ich nach Moskau. Dort trafen wir auf Norman Mailer, Graham Greene, Yoko Ono und, ja, Karel Gott. Es war schon eine illustre Mischung. Nächtelange offene Diskussionen folgten. Das Wettrüsten sollte beendet, die Blöcke sollten aufgelöst werden. Graham Greene hielt für die Schriftsteller die Abschlussrede. Gorbatschow hörte zu und stand Rede und Antwort. Seine Visionen faszinierten mich.

Zuhause am Flughafen wurden wir von Fernseh- und Radioreportern empfangen. Ich lief mit meiner Unerfahrenheit und Naivität ins offene Messer. Ich wurde darauf angesprochen, ich hätte mich zum Idioten der sowjetischen Propaganda gemacht. In die Enge getrieben, ließ ich mich zu der Aussage hinreißen: „Ach, wer spricht denn noch über die Mauer? Die Mauer, die wird bald schon im Museum stehen.“

Man darf nicht vergessen, damals herrschte kalter Krieg. Die Mauer stand und die Systeme waren kurz davor, sich gegenseitig mit Atomraketen zu vernichten. Ich löste mit meinem Satz, der heute vielleicht visionär klingen mag, aber damals einfach nur unbedacht, ja blöd war, eine Empörungswelle aus.

Und dann ging es auch rasch an meine berufliche Existenz. Manuskripte wurden überraschend abgelehnt. Verabredete Filme nicht gemacht und vereinbarte Lesungen abgesagt. Ich bekam auf beängstigende Weise Sanktionen zu spüren. Offiziell wurde das alles anders begründet, aber hinter vorgehaltener Hand sagte man mir, dass ich mich nicht wundern müsse, wenn ich so einen Mist erzähle.

Als dann ein Brief von Rolf Stindl aus Bremerhaven kam, rechnete ich ganz klar mit einer Ausladung. Stattdessen war darin ein Leseplan. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Wir gingen gemeinsam essen. Natürlich Limandes. Wir sprachen über Bücher, über Bödecker, über Leseförderung und das war´s auch schon. Kein Wort zu dem Unsinn, den ich erzählt hatte.

Damals hat Rolf Stindl, der CDU-Fraktionsvorsitzende, dem jungen sozialistisch gesinnten Autor eine Lektion in Demokratie erteilt. Eine, für die ich ihm noch heute dankbar bin.

Für mich war es damals unglaublich wichtig. Jahre später, als Überreste der Mauer wirklich im Museum standen, sprach ich Rolf darauf an. Und – das macht es für mich noch viel größer – er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Was für ihn selbstverständlich gewesen war: einen Autor nach seinen Büchern zu beurteilen – war für mich von tiefer, grundlegender Bedeutung. Ja, Rolf Stindl betrieb nicht nur leidenschaftlich Leseförderung, sondern ganz nebenbei auch intensive Autorenförderung. Denn, was ist wichtiger für vogelfreie Schriftsteller als verlässliche Veranstalter? Die meisten leben doch von ihren Lesungen und eben nicht von ihren Büchern.

2008 gingen wir das Wagnis ein, ein Kindermusical von Bettina Göschl fürs ZDF zu verfilmen. Wie üblich, wenn man für Kinder dreht, mit einem minimalen Etat. Einem sehr engen Budget. Dafür planten wir aber, mit einer Schulklasse zu drehen und zwar auf der Nordsee, auf einem Piratenschiff. Logistisch, versicherungstechnisch, organisatorisch ein Riesenproblem und eine große Verantwortung. Um uns auf das Abenteuer einzulassen, brauchten wir verlässliche Partner. Ein Name stand während der Diskussionen wie in Leuchtbuchstaben an der Wand: Rolf Stindl.

Tut mir leid, ihr lieben Leute, ich muss euch die Wahrheit sagen: Wir sind nicht nach Bremerhaven gekommen, weil wir hier die besten Drehbedingungen angetroffen hätten. Nicht wegen der schönen Landschaft und auch nicht wegen der tollen Studios … Nein! Rolf und Hildegard waren für uns Grund genug. Rolf hat uns Türen geöffnet und so manches, was ohne ihn sehr schwer gewesen wäre, hat er uns leicht gemacht.

Natürlich wollten wir, dass Rolf den Leuchtturmwärter spielt, der in Bettinas Song Niko heißt und den Piraten Unterschlupf gewährt, wenn sie verfolgt werden. Im Song, den Bettina heute so gern für dich gesungen hätte, lieber Rolf, heißt es:

„Hey, ihr Piraten da draußen in der Nacht,
das Leuchtfeuer habe ich für euch angemacht.
Hey, ihr Piraten, könnt hier vor Anker gehen,
in meiner Bucht, ja da kann man euch nicht sehen.
Leuchtfeuer in der Nacht.“

Und genau das warst und bist du für uns, lieber Rolf. Ein Leuchtfeuer in der Nacht. Und dein Bremerhaven war immer eine sichere Bucht für uns Piraten, Künstler, Lesehungrige.

Ich verneige mich vor einem großen Mann…

Erfahren Sie mehr zum Morden nach Norden.

Rolf und Hildegard Stindl mit Klaus-Peter Wolf im Restaurant Haverkamp in Bremerhaven