Moskauer Tagebuch

Auf Einladung von Dschingis Aitmatow fuhr Klaus-Peter Wolf zusammen mit Bernt Engelmann, Max von der Grün, Günter Wallraff, Lothar Günther Buchheim, Friedrich Hitzer, Maria und Maximilian Schell und Hanna Schygulla zum Friedensforum in die Sowjetunion. Hier seine Tagebuchaufzeichnungen

13. Februar ’87

Komische Situation. Die Ärzte und Naturwissenschaftler fliegen zweiter Klasse. Wir Schriftsteller erster Klasse. Zwischen uns ein Typ, der aussieht wie ein alt gewordener Hippie. Fransenbart bis zum Bauchnabel. Später stellt sich heraus: Er ist Erzbischof. Lädt uns zum Abendessen in seine Moskauer Wohnung ein. Wallraff kommt natürlich zu spät und verpaßt fast die Maschine. Noch weiß niemand genau, was eigentlich in Moskau laufen soll. Es gibt Erwartungen. Hoffnungen. Aber alles sehr unkonkret. Ich sehe nur noch einmal das zwei Seiten lange Telegramm von Dshingis Aitmatow an, mit dem ich zum Forum eingeladen worden bin. ‚Um die Erhaltung der Zivilisation und des Lebens auf Erden‘ sollte es gehen. Der Kommentar eines Freundes: ‚Na, wenn sie dich dafür brauchen, dann würde ich an deiner Stelle auch fahren, dann sieht es nämlich finster aus.‘ Im Erster-Klasse-Abteil reicht man Champanski und Caviar. Na dann. … Im Moskauer Flughafen läuft alles problemlos. Ilja, mein Übersetzer, holt mich ab. Er ist stolz, daß der Autor, den er ins Russische übersetzt hat, hierher eingeladen wurde. Noch während wir auf die Pässe warten, diskutieren wir über neue Bücher. Meine Dolmetscherin für die nächsten Tage, Julia, mischt sich ein. Ich staune, wie gut beide informiert sind. Solange wir über deutschsprachige Autoren reden, kann ich knapp mithalten. Wenn wir über sowjetische Literatur sprechen, muß ich immer wieder grausame Wissenslücken zugeben. Kulturaustausch als Einbahnstraße. Wir fahren zum Hotel Cosmos. Ein Bau mit 30 Stockwerken. Hier werden wir die nächsten Tage essen, schlafen (sehr wenig) und reden. Man braucht einen Sonderausweis, um hereinzukommen. Ilja, mein Übersetzer, hat keinen.

Petra Kellys Verehrung für Sacharow hat ewas Religiöses. Der eingefleischte Atomkraftbefürworter als Bündnisspartner der Grünen in Moskau?

Lockerer Empfang aller Gäste. Keine Reden. Nur ein Imbiß. Zufällige, informelle Gespräche. Wie groß Gregory Peck ist. Lange kann ich nicht mit ihm reden, dann schmerzt mein Nacken. Petra Kelly erzählt mir aufgeregt von ihrem Gespräch mit Sacharow. Sie hat ihn eingeladen. Ihre Verehrung für ihn hat etwas Religiöses. Kaum zu verstehen. Ist er, der eingefleischte Befürworter der Atomkraft, wirklich der richtige Bündnispartner für die Grünen in Moskau? Eine Wunderheilerin aus der Sowietunion ist auch da. Ich kenne ihr Bild aus Illustrierten. Sie macht ein bißchen auf Modepunk. ‚Warum ist sie hier?‘ frage ich meine Dolmetscherin. ‚Sollen die Wunderheiler die Zivilisation retten?‘ Ich höre, sie sei auf Intervention von Petra Kelly da. Na, meinetwegen. Mich stört sie nicht. Gute Gespräche mit Graham Green, Max von der Grün und Friedrich Dürrenmatt. ‚Die Menschheit stirbt aus. Na und? Die Mammuts sind auch ausgestorben. Macht deshalb einer Theater?‘ fragt Dürrenmatt.

14. Februar ’87

Kamerateams in Dreierreihen um unseren Frühstückstisch. Kaum möglich zu essen. Geblendet sehe ich meine eigenen Hände nicht, die auf dem Tisch wie hinter einer Lichtschranke das Frühstücksbrot ertasten. Den Journalisten geht es um Namen und Gesichter. Selten um Inhalte. Gerade die Schweizer verwechseln ständig Frisch und Dürrenmatt. Wollen sie die beiden ärgern oder ist das eine Art running gag? Aitmatow bemüht sich tapfer, die Konferenz zu eröffnen, aber die Journalisten interessieren sich nur für ein paar Prominente, die sie gerne filmen wollen. Arbeiten kann man so nicht. Immer wieder bittet Aitmatow höflich, aber die Kameramänner sind taub. Dann -mit ziemlicher Verspätung – dürfen wir endlich ungestört reden. Wir sind erleichtert. Später werden einige Zeitungen deswegen schreiben, es sei eine Geheimkonferenz gewesen. Aitmatow bittet alle Teilnehmer, frei zu sprechen. Niemand muß, was mir westdeutsche Journalisten vorher einredeten, ein Redemanuskript abliefern, bevor er sprechen darf. Man meIdet sich, kommt dran und kann sagen, was man denkt. Es wird simultan gedolmetscht. Man kann diese drahtlosen Ohrwürmer überall mit hinnehmen. So hört man sogar auf der Toilette, was geredet wird, wenn man es unbedingt möchte. Erstaunlich wenig Schaufensterreden werden gehalten. Vor surrenden Kameras wäre das vermutlich anders. Allen Beteiligten ist klar, daß es so wie bisher nicht weitergeht mit der Welt. Aber wie dann? Immer wieder wird von ‚wir‘ gesprochen. Wer ist das? ‚Wir‘ Menschen? ‚Wir‘ Kongreßteilnehmer? Manchmal schleicht ein Elitedenken durch den Saal. Wir wissen ja, wo es langgeht, aber die anderen da draußen nicht. Aber so ist es ja gar nicht. Wir wissen nur, wie es nicht mehr geht. Wie weiter- das ist die Frage. Ein Physiker schlägt vor, auf der Grenze zwischen Ost und West einen gemeinsam betriebenen Atomreaktor zu errichten. Das, so meint er, könne den Frieden sichern. Nicht alle klugen Leute sagen kluge Sachen. Wie ein Eisbrecher fährt immer wieder, von den sowietischen Kollegen in die Diskussion geworfen, ein Begriff durch den Saal: ‚Neues Denken‘. Später dann ‚Glasnost‘, ‚Offenheit‘. Gibt es einen Terrorismus der Wissenschaft gegen die Menschheit? Der das fragt ist der Vorsitzende der Weltakademie der Wissenschaft. (Nie gewußt, daß es so etwas gibt.) Frieder Hitzer erzählt, beim internationalen Schriftstellerkongreß in Paris 1935 habe es Schlägereien gegeben. Unter anderem zwischen Ilja Ehrenburg und Andre Breton. Aber die Gefahr sehe ich hier nicht. Abends sind wir in die bundesdeutsche Botschaft eingeladen. Hanna Schygulla will lieber ins Kino, aber ich lasse mich von Max von der Grün überreden. Wallraff (natürlich mit versteckter Kamera) dabei. Die Botschaft wurde von der sowjetischen Initiative überrascht. Man entschloß sich rasch, alle auf einen Cocktail einzuladen. Und kreuzt auch hier das ‚Neue Denken‘? Durchaus freundliche Gespräche zwischen Wallraff und Benhold Beitz. Ob man sich auf heimischem Parkett ähnlich begegnet wäre? Die Speerspitzen der deutschen Wirrschaft zeigen sich weltoffen, umgänglich, beeindruckt von dem neuen Mann in Moskau. Ich bin schier baff. Undenkbar, daß diese mächtigen Männer aus einem Land kommen,
in dem es Berufsverbote für Kommunisten gibt.

15. Februar ’87

Die Szene beim Frühstück ist grotesk. Wir werden beim lesen der Zeitung fotografiert von den Leuten, die diese Blätter machen, aber es steht nichts über den Kongreß drin. Es gibt auf allen ersten Seiten Berichte über eine Demonstration mit zwei Duzend Teilnehmern in Moskau. Das Friedensforum existiert – wenn überhaupt – klein wie eine kuriose Meldung.

‚Warum verdammt all diese Interviews und Fotos, wenn ihr schweigt?‘ brüllte ich. Um in Ruhe essen zu können, will ich in mein Zimmer zurück. Aber auch don vor der Tür warten zwei Journalisten. Sowjetische. Mit der Frage: ‚Warum sind Sie hier hergekommen‘, verschaffen sie sich Einlaß. Im Konferenzsaal, Max Frisch hält die Katastrophe für wahrscheinlich; Hanna Schygulla fragt, ob wir überhaupt noch Zeit haben, das neue Denken zu erlernen. Der US-Regisseur Milos Forman hält die wichtigsten Probleme der Welt ohnehin für unlösbar. Stephan Hermlins kurze klare Sätze tun gut. ‚Der Faschismus ist keine Neurose, die von der Oktoberrevolution hervorgerufen wurde.‘ Zwischen den deutsch/deutschen Gästen herrscht ein fast herziches Verhältnis. Bernt Engelmann setzt ein Telegramm an Reagan auf. Er soll ein solches Treffen in den USA ermöglichen. Rasch sind die Unterschriften zusammen: Fürs Fernsehen unterzeichnen publikumswirksam Maria Schell und Hanna. Henri Corne will einen Ausschuß zu Menschenrechtsfragen gründen. 13 Teilnehmer wollen mitmachen. Man stellt ihnen einen Raum zur Verfügung und räumt für ihre Arbeitsverhältnisse 30 Minuten Redezeit ein. Ich spreche über die Luftballonaktion gegen Tiefflieger im Westerwald, was Peter Ustinov begeistert. Er malt zur Unterstützung der Aktion ein Bild für mich. Abends zu Gast beim sowjetischen Schriftstellerverband. Eine Diskussion zieht sich bis an die Hotelbar. Jewtuschenko, Wallraff, Klaus-Maria Brandauer. Frieder Hitzer dolmetscht trotz Wodka mit atemberauschender Geschwindigkeit. Plötzlich ist um halb zwei morgens ein Kamerateam da, um die Unterhaltung zu filmen. Wir wollen das nicht, sind aber schon zu betrunken, um konsequent zu sein. Die Diskussion wird zur Begeisterung des Filmteams immer hitziger. Jewtuschenko versichert, nie sei die Situation für Autoren so günstig gewesen wie jetzt. Alles sei möglich, das Experiment gefragt. Wallraff wußte nicht, wie berühmt er in der SU ist. Junge sowjetische Kollegen übernehmen seinen Arbeitsstil, ja werden dazu ermuntert.

Da reißt es auch schon mal die Spitzen der deutschen Wirtschaft von den Stühlen, und sie klatschen dem Generalsekritär Beifall. Gorbatschow lächelt: ‚Ich wußte, dass sie klatschen würden.
‚Mich haben die klatschenden Wirtschaftsbosse verwirrt.

16. Februar ’87

Nach dem Frühstück zum Kreml. Erstaunlich, wie frisch alle sind. Wallraff braucht seine versteckte Kamera nicht zu vestecken. Die religiösen Herrscher in ihren Verkleidungen. Daneben ein englischer Popsrar, der seine Freundin abknutscht. Nadelstreifenanzüge und Jeans. Einige der asiatischen Kollegen in ihren schlichten Anzügen kämen so in Westberlin nicht mal in eine Diskothek. Hermann Kant weist mich schmunzelnd darauf hin, daß bei den sowjetischen Freunden der ‚abzeichenlose Zustand‘ ausgebrochen ist. Orden sieht man eigentlich nur noch bei kirchlichen Würdenträgern. Die, die sich daran gewöhnt haben, daß Politik zur Show geworden ist, argwöhnen jetzt: ‚too much show‘. Aber auch mich beschleicht in diesen historischen Räumen ein Gefühl, als würde ich in die Oper gehen. Die Welturaufführung eines erfolgversprechenden Stückes, das bald die Herzen der Menschen in der ganzen Welt erobern wird. Aus jeder Arbeitsgruppe trägt ein Vertreter die Ergebnisse vor. Gorbatschow hört gespannt zu. Er wirkt geIöst, ja locker. Die Wissenschaftler schlagen ‚offene Labors‘ vor. Die Wirtschaftler ‚gemeinsame Betriebe‘. Ein Metropolit spricht gegen SDI. Für die Schriftsteller redet Graham Greene. Er wünscht sich für den Papst ein paarsowjetische Berater und hat längst die Trennlinie zwischen Katholizismus und Kommunismus überschritten. In seiner tiefen Religiosität überzeugt ihn die marxistische Analyse der Situation. Dann spricht Gorbatschow. ‚Das Forum verkörpert wahrhaftig die Weltöffentlichkeit.‘ Ich sitze den eigentlichen Herrschern der Bundesrepublik sehr nahe. Christians von der Deutschen Bank. Otto Wolf von Amerongen. Beitz. Werner Dieter von Mannesmann. Ich beobachte ihre Reaktionen, und es tut mir sehr leid, daß Wallraff mit seiner Kamera so weit weg sitzt. Die Gesichter dieser Wirtschaftsbosse sprechen Bände. Die Analyse von Gorbatschow ist schlicht, klug und in jedem Punkt treffend. Seine Vorschläge kann nur ein Bösartiger ablehnen oder ein Schwachkopf. Das, was in den Diskussionen der letzten Tage manchmal fehlte: der Ausweg, wird sichtbar. Weg von der Politik der Abschreckung. Eine Welt frei von Kernwaffen. Reduzierte Armeen überall. Einsatz gigantischer finanzieller Mittel gegen den Hunger in der Welt. Da reißt es auch schon mal die Spitzen der deutschen Wirtschaft von den Stühlen, und sie klatschen dem Generalsekretär stehend Beifall. Gorbartschow lächelt: ‚Ich wußte, daß sie klatschen würden.‘ Er zeigt sich optimistisch. ‚Ich zweifle nicht daran, daß die Saat Ihres Forums aufgehen wird. Die Kräfte des Militarismus – sie stehen durchweg als Synonym für die Kräfte der Unwissenheit und geistigen Blindheit – sind nicht allmächtig.‘ Die klatschenden Wirtschaftsbosse haben mich verwirrt. Abends an der Bar treffen Max von der Grün und ich auf eine Gruppe von CDU-Leuten aus Baden- Württemberg. Sie sind gekommen, um Geschäfte zu machen. Wir müssen erfahren, daß es ‚für die Russen besser gewesen wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten‘. Wir diskutieren – warum eigentlich – mit diesen Menschen bis ein Uhr morgens. Der Reporter der Süddeutschen entgeht nur knapp der Prügel, die Max von der Grün ihm zu gern verpaßt hätte. Das rückt in meinem Kopf einiges wieder zurecht. Ein taz-Redakteur fragt aufgeregt: ‚Wird die Sowjetunion kapitalistisch, oder erfüllt sich der alte APO-Traum von einem freien, bunten, ja fröhlichen Sozialismus?‘ Wahrscheinlich waren wir diesem Traum nie näher; wenn nicht ein paar wahnsinnige Militärstrategen vorher das Licht ausknipsen, können wir es noch erleben.

Ein taz-Redakteur fragt aufgeregt: ‚Wird die SU kapitalistisch, oder erfüllt sich der alte APO-Traum von einem freien, bunten, ja fröhlichen Sozialismus?‘ Wahrscheinlich waren wir diesem Traum nie näher; wenn nicht ein paar wahnsinnige Millitärstrategen vorher das Licht ausknipsen.
Michael Gorbatschow:
Reykjavik war der Durchbruch
Aus der Redevor dem Moskauer Friedensforum

Ich möchte insbesondere noch auf Reykjavik eingehen. Es gab dort kein Scheitern, sondern einen Durchbruch. Reykjavik hat deshalb in der ganzen Welt eine so starke Reaktion ausgelöst, weil wir an das Problem der Reduzierung der Kernwaffenarsenale von einer völlig neuen konzeptionellen Warte aus als politisches und psychologisches und nicht nur militärtechnisches Problem herangegangen sind. Beinahe wäre eine Lösung gefunden worden. Doch was sollen wir anfangen mit diesem „Beinahe“, durch das wir in Reykjavik nicht zum Ziel gekommen sind? Ich will hier nicht erneut darüber polemisieren, warum das so war. Ich hoffe, Ihnen ist unsere Einschätzung bekannt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf folgende Tatsachte lenken: Als in einem bestimmten Moment in Reykjavik beide Seiten übereinkamen, ihre Kernwaffenarsenale einschneidend zu reduzieren und schließlich zu beseitigen, bedeute das praktisch ihr Eingeständnis, dass nukleare Mittel die Sicherheit nicht mehr zuverlässig garantieren können. Was in Reykiavik geschah, hat den Charakter und das Wesen der Debatten über die künftige Welt unwiderruflich verändert. Das ist eine wichtige politische FeststeIlung. Aber schon die Möglichkeit, die sich da abzeichnete, hat manche erschreckt, und sie drängen zurück. Doch wie sehr sie sich auch an die Vergangenheit klammern, es gibt zu ihr keine Rückkehr. Ich bin überzeugt, daß sich die Menschheit von den nuklearen Ketten befreien kann, und ich hoffe, daß sie rechtzeitig damit beginnt. Doch dafür muß man kämpfen, ernsthaft kämpfen. Das neue politische Denken ist dazu berufen, die Zivilisation auf eine qualitativneue Stufe zu heben. Allein deshalb ist das keine einmalige Positionskorrektur, sondern eine ne Methodologie der Gestaltung internationaler Angelegenheiten.