Wie Cornell Woolrich meinen Deutschlehrer besiegte

Wie Cornell Woolrich meinen Deutschlehrer besiegte

Klassischer Schund

Empört nahm mir der Oberstudienrat das zerfledderte Taschenbuch ab. Statt über die gesellschaftliche Funktion von Minnesängern zu diskutieren, las ich so etwas! Ein einziger Blick auf den Umschlag genügte meinem Deutschlehrer. „Das ist Schundliteratur!“, verkündete er mit einem Anflug von Ekel um die Mundwinkel. Damit war mein gerade erst im Kaufhof vom Ramschtisch gestohlenes Taschenbuch konfisziert. Ich glaube, es war Der schwarze Engel. Jedenfalls ein Cornell Woolrich. Der Oberstudienrat ließ den Roman in seiner Aktentasche verschwinden und widmete sich wieder den Minnesängern. Ich saß nah genug an seiner Tasche, um das Buch zum zweiten Mal zu klauen, aber ich tat es nicht. Vielleicht gönnte ich ihm mal eine abwechslungsreiche Lektüre. Oder ich stand noch zu sehr unter dem Eindruck des gerade Gelesenen, jedenfalls saß ich den Rest der Stunde gleichmütig und regungslos ab wie eine Gletscherspalte.

Ich war knapp achtzehn und schrieb heimlich auf einer klapprigen Reiseschreibmaschine mit dem Adler-Such-System meinen ersten Roman: „Die Fliegen kommen“. Der Deutschunterricht half mir dabei wenig. Als angehender Romanschriftsteller suchte ich mir andere Lehrer: Cornell Woolrich, Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Allesamt hielt mein Deutschpauker sie für Schundautoren. In diesem Sinne wollte ich voller Begeisterung ebenfalls zum Schundautor werden. Klar, was die „ernsthaften Literaten“ machten, war allererste Sahne, aber für meinen Geschmack zu lange geschlagen, zu weiß gefärbt, zu steif. Ich schrieb nicht, um die Grazie meines Stils unter Beweis zu stellen und erst recht nicht, um meine Bildung vorzuführen. Ich wollte fesselnde Stories erzählen. Knapp, schnell, mit sparsamen Mitteln. Die Atmosphäre war mir fast wichtiger als die Handlung. Dafür hatte ich mir genau die richtigen Lehrmeister ausgesucht.

Durch kleine, alltägliche Handlungen das Entsetzen schimmern zu lassen, wer konnte es besser als Cornell Woolrich? Immer handeln seine Stories von einer Krisensituation. Er setzt seine Personen unter Druck. Sicherheit und Geborgenheit gibt es höchstens als Sehnsucht. Die Familie als Ort der Zuflucht existiert nicht mehr. Woolrich liebte wie Hammett und Chandler die Einzelgänger. Gescheiterte Zyniker. Gebrochene Charaktere. Einsame, nur sich selbst verpflichtete Menschen. Sie dienen keinen Idealen. Sie haben nur eine Partei, ihre eigene. Die Menschen leben mit den schlecht vernarbten Wunden ihrer Vergangenheit, können ständig eingeholt werden von alten Geschichten, die sie eigentlich lieber vergessen wollten. Deshalb wirken sie manchmal wie Marionetten an den Fäden ihrer eigenen dunklen Geschichte, die unsichtbar über ihnen schwebt wie das Fadenkreuz, das sie nach mystischer Regie tanzen lässt …

Sie sind Gefangene, egal wie wild sie sich auf der beleuchteten Bühne bewegen. Schneiden sie die Fäden ihrer Vergangenheit durch und flüchten so in die trügerische Freiheit, ist sie nicht mehr als ein lebloser Haufen Holz. Verlieren sie ihre Angst, so ist auch ihre Antriebskraft futsch. Kein Wunder, dass Woolrichs Stories als Filmvorlagen die Schwarze Ära begründeten. Der Film Noir entstand. Später fälschlicherweise immer wieder als Hollywoods Schwarze Serie bezeichnet. Die Filme entstanden in den vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre. Die Nachkriegswelt mit ihren entwurzelten Gestalten bot den zerrütteten Hintergrund. Schauspieler wie Humphrey Bogart in seiner Rolle als Chandlers Philip Marlowe machte der Film Noir weltberühmt. Regisseure wie Fritz Lang, Orson Welles, Alfred Hitchcock, Billy Wilder und Francois Truffaut schufen düstere Meisterwerke.

Was Woolrich, Chandler und Hammett mit der Magie der Sprache entwickelten: die beklemmende Atmosphäre, die auch durch spritzige Dialoge nicht zerstört werden konnte, dazu benutzten die großen Regisseure das Licht. Von der üblichen Beleuchtung wichen sie entscheidend ab. Sie machten keinen Unterschied mehr zwischen der Ausleuchtung einer Person und ihrer Umgebung. So entstanden Halbdunkelbereiche auch für die Spielszenen. Das übliche Führungslicht wurde konsequent reduziert. Ständig droht die Dunkelheit die handelnden Personen zu schlucken, sie gewährt ihnen aber auch Unterschlupf. Stellt vielleicht das letzte Stückchen Geborgenheit dar. Die neue Verwendung des Lichts verdinglicht die Personen. Lässt sie zu Teilen ihrer Umgebung verschmelzen.

Was für das Kino eine Revolution bedeutete und den Film Noir sogleich zum Kultfilm machte, ist aber keine Erfindung der Regisseure, wie uns gängige Filmbücher weismachen wollen. Nein, dies alles ist bereits angelegt in den Geschichten. Schauplätze sind nicht die Boulevards, nicht die Opern und Kunstpaläste, sondern schäbige Hotelzimmer, zwielichtige Bars, Hinterhöfe und dunkle Hafenviertel. Klaustrophobische Gefühle werden geweckt. Keiner ist wirklich irgendwo zuhause. Alle Orte sind nur Durchgangsstationen. Man ich ständig auf der Suche nach … oder auf der Flucht vor … Man hat später viel mystischen Unsinn in Cornell Woolrichs Schreibe hineingeheimnist. Psychologen und Literaturwissenschaftler gingen der Frage nach: Warum war Woolrich so düster? Nun, er war homosexuell, er war Alkoholiker und er lebte als Schriftsteller während der schlimmen McCarthy-Zeit in den USA. Wenn das nicht ausreicht, um depressiv zu werden …

Er musste sich mit einer zigtausendköpfigen Schar von Schreiberlingen an die literarischen Futtertröge drängen. Intrigen gediehen, Missgunst und Verrat. Ein politischer Verdacht vor dem Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe konnte von heute auf morgen brotlos machen. Und egal, wie gut er war, als Autor für Pulp-Magazine galt er nicht nur meinem Deutschlehrer als Schundschreiber, sondern erst recht der amerikanischen Literaturkritik, die nach langem Ringen vielleicht Dashiell Hammett anerkannte und kurz vor seinem Tod auch Raymond Chandler, aber niemals Cornell Woolrich.

Da nutzte es ihm auch nichts, dass Hitchcocks Verfilmung von Das Fenster zum Hof ein Welterfolg wurde. Sidney Pollack und Francois Truffaut brachten Die Braut trug Schwarz auf die Leinwand. Eine Weile ging es Woolrich finanziell sogar gut. Aber die Anerkennung, die er suchte, fand er nicht. Und er wusste, wie brüchig finanzielle Erfolge waren. Wie seine Helden befand er sich ständig auf der Suche nach dem großen Coup, dem ganz dicken Geld, das unabhängig machen sollte und frei. Wie seinen Helden gelang es ihm nie. Was er ergatterte, zerrann zwischen seinen Fingern.

Er lebte wie viele seiner Kollegen in Hotels. In einem dieser heruntergekommenen New Yorker Hotels starb er einsam im Jahr 1968. Er soff wie Chandler, um sich zu betäuben und den Kopf für eine halbwegs schlüssige Geschichte klar zu kriegen. Vermutlich trank er sich auch wie sein großer Kollege zu Tode. Trotz seiner Sauferei gelang es ihm immer wieder, Dinge nicht kompliziert darzustellen, sondern komplex.

Wie groß der Einfluss von Woolrich, Hammett und Chandler damals auf mich war, erkannte ich erst jetzt, als ich ein altes Deutschaufsatzheft von mir wieder fand. Ich benutzte ihre Formulierungen, ahmte ihre Sprache nach, was mir natürlich misslang. Bei mir „öffneten sich Zahnreihen wie ein Reißverschluss“, waren Männer „harte Brocken“ und es gab „Grünschnäbel und eiskalte Engel“. Immer wenn ich so eine Formulierung entlieh, kreiste mein Deutschlehrer sie rot ein und schrieb ein großes A für „Falscher Ausdruck“ an den Rand.

Ich stand in Deutsch auf einem glatten Mangelhaft. Aber ich lernte, Romane zu schreiben.